#107 Hadija Haruna-Oelker: "Es gibt in unserer Gesellschaft keine Vorstellung von Inklusion" [28:05]

20. Februar 2025

Hadija Haruna-Oelker
© Katarina Ivanisevic

Wie kann eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit aussehen? Und warum haben viele Menschen die falsche Vorstellung von Inklusion? Darüber spricht Frieda Ahrens in dieser Folge mit Hadija Haruna-Oelker, Autorin des Buches Zusammensein. Sie berichtet aus ihrer Perspektive einer Verbündeten, als Mutter eines behinderten Kindes. 

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Frieda Ahrens: 
Hallo und herzlich willkommen zu der neuen Folge des Literaturhaus Podcast, diesmal mit Frieda Ahrens. Zu Gast in dieser Folge ist Hadija Haruna-Oelker. Hallo Hadija!

Hadija Haruna-Oelker: 
Hallo! 

Frieda Ahrens: 
Ich erkläre noch mal den Zuhörer:innen kurz, wer du bist und falls ich irgendwelche Fehler mache, unterbricht du mich einfach.

Hadija Haruna-Oelker: 
Okay. (lacht)

Frieda Ahrens: 
Du bist Journalistin und Moderatorin, du arbeitest beim hr, also beim Hessischen Rundfunk, und du hast mit Max Czollek zusammen seit 2013 den Podcast “Trauer und Turnschuh”, in dem über verschiedene Aspekte der Erinnerungskultur im weitesten Sinne sprecht. Und du bist Autorin, deswegen bist du hier. Dein erstes Buch war “Die Schönheit der Differenz” und in diesem Podcast wollen wir vor allem über dein zweites Buch sprechen: “Zusammensein. Ein Plädoyer für eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit.” Da geht es um ein inklusives Miteinander. Ich würde gern thematisch auch vorne im Buch beginnen. Weil du ganz vorne schreibst – was du auch in deinem ersten Buch geschrieben hast – aber dass beide Bücher eine Art Einladung sind. Ich habe mich gefragt: Hat das geklappt? Klappt so eine Einladung, so ein Buch?

Hadija Haruna-Oelker: 
Ich hoffe es doch. Zumindest hoffe ich, dass das bei Lesenden diesen Effekt hat, sich eingeladen zu fühlen. Ich meine, man muss natürlich erst mal dieses Buch in die Hand nehmen und sich trauen, auch ein großes Buch in die Hand zu nehmen. Obwohl ich glauben würde, dass man sich sozusagen in Portionen vorarbeiten kann. Aber was ich an den Lesungen sehe, die ich habe, und an der Unterschiedlichkeit der Gäste, die da sind, würde ich sagen: Viele folgen der Einladung oder sind zumindest interessiert. Weil sie vielleicht mitbekommen haben, dass meine Idee ist, niemanden auszuschließen, sondern einzuladen eben genau zu diesem Aspekt, der gerade in unseren antidemokratischen Zeiten so wichtig ist, nämlich genau diejenigen kennenzulernen, von denen man nichts weiß, von denen man vielleicht vieles glaubt und die man vielleicht besser kennen könnte, um sich auf neue Gedanken zu bringen.

Frieda Ahrens: 
Du hast es schon angesprochen: Antidemokratische Zeiten. Dein Buch ist, die Einladung, ist auch eine Art Wissenstransfer, also viel Wissen angesammelt. Man merkt, du hast viel Literatur gelesen, du zitierst viele Menschen und dieses Buch ist eine Art Wissenstransfer. Es reicht sich also immer mehr Wissen zum Thema an und wir werden irgendwie immer ein Stück schlauer. Und trotzdem wird gerade diese Schere immer größer, zwischen was davon dann auch angewendet werden kann oder angewendet wird. Warum ist das so? Warum ist es so, dass wir mit diesem Wissen, das immer mehr wird, aber in der Anwendung kommt es irgendwie nicht so richtig an bzw. man hat gerade die Angst, dass es eher einen Rückschritt macht?

Hadija Haruna-Oelker: 
Ja, das eine total wichtige Frage, die mich auch bewegt. Ich habe gerade – du hast ja gesagt, dass ich auch beim Hessischen Rundfunk arbeite – eine Sendung mit Kolleg:innen gemacht zum Thema Demokratie. Nämlich zum Demokratieverständnis und was eigentlich alles dazu zählt. Und das ist ja sehr abstrakt und es gibt ja total viele Umfragen, auch so Meinungsumfragen zum Thema “Wie ist die Stimmung im Land? Was stört Sie?” Und es gibt so Erhebungen, die sagen eben, viele Menschen glauben noch, dass die Demokratie das beste System ist. Aber sind misstrauisch geworden oder verstehen sie vielleicht auch gar nicht oder haben eben ganz viele Punkte, die sie kritisieren. Und da ist ja so eine Diskrepanz drin und das hat auch ganz viel mit Vertrauen zu tun und vor allem mit komplexen Fragen, die unsere Gesellschaft stellt. Und keine leichten Antworten, die es darauf gibt. Aber dass wenn man selber in seinen ganzen Struggles und Problemen dann das System nicht mehr versteht, weil, ich würde sagen, seit der Pandemie einfach auch sehr vieles sehr kompliziert geworden ist. Und dann ist es natürlich eine Entscheidung, ob man nach einfachen Antworten sucht und wenn sie kommen, ob man die nimmt. Oder ob man sich genau dem Gegenteil, also aus der Komfortzone, widmet und sich eben peu a peu fort arbeitet, das zu entblättern und Lage für Lage sich vorzuarbeiten. Und wenn du also Wissenstransfer beschreibst, also mit Wissenstransfer meine Bücher beschreibst, dann ist es genau das. Ich versuche, mich Lage für Lage vorzuarbeiten. Das ist ein kontinuierlicher Prozess, der auch nicht zu Ende ist. Was ich gestern gesagt habe, ist morgen – also nicht ganz anders–, aber baut weiter auf.
Manchmal platzt mir auch der Kopf, weil ich verstehe, dass das so komplex ist. Aber vieles ist auch logisch und vieles hat Kontinuität. Und jetzt kommt – du hast den Podcast angesprochen mit Max Czollek – das hilft mir. Dieser Blick in die Vergangenheit. Kontinuitäten sehen, Wiederholungen – natürlich anders, aber ähnlich. Wie Menschen agieren, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, all das hilft, nicht zu verzweifeln und vor allem das Jetzt auch irgendwie einordnen zu können.
Und es ist einordbar. Es gibt sehr viele Menschen, die sich sehr viele kluge Gedanken gemacht haben. Und ja, die lese ich und denen folge ich und über die denke ich nach und schreibe meine Gedanken dazu auf.

Frieda Ahrens: 
Du schreibst, also hast du gerade gesagt, Lage für Lage. Dein Buch kann man in Abschnitten lesen, weil du so verschiedene Kapitel hast. Es fängt mit “Kindheit” an und da wird es direkt schon ein bisschen philosophisch, weil du so ein bisschen nach dem authentischen Ich fragst: Wann sind wir mit uns selber im Reinen? Ist das ein Prozess? Sind Sie da irgendwann angekommen? Ich hab mich gefragt: Denkst du, wenn wir uns alle ein bisschen mehr selber erkennen würden oder auch verstehen würden, dass wir alle nicht perfekt sind, dann gibt es auch ein besseres Wir?

Hadija Haruna-Oelker: 
Ich habe das noch gar nicht so gesehen, wie ich dieses Ich beschreibe. Viel, wenn ich schreibe, ist so intrinsisch. Also ich denke so: Wo fängt der Weg an und wo komme ich dahin? Und die Idee des Buches basiert ja darauf, dass ich ein Kind habe, das ich begleite, das ergo, weil ich Mutter bin und eigene Prozesse durchlaufen habe, mich auf meine eigene Kindheit sehr stark zurück beziehe oder erinnere und viele Dinge aufkommen. Und das natürlich auch prägend ist für dieses Buch. Nämlich zu sagen: Wir waren ja alle mal Kinder. Und wie war das eigentlich? Und wer setzt sich damit auseinander und wer tut das wirklich? Und wer hat vielleicht auch Dinge abgelegt? Und wer vielleicht eben auch gerade in diesen Fragen von Diskriminierung und Differenz und Unterschieden und all diesen – jetzt kommen wir wieder zur Geschichte – Vorstellungen von Menschen, die wir gelernt haben, nicht hinterfragt haben, weil es eben so war, wie es damals war.
Ich bin ein Kind der 80er. Es gab keinen Rassismus in Deutschland. Natürlich gab es ihn, aber es gab ihn nicht. Ableismus war kein Wort, das im Deutschen verwendet wurde. Also die Ablehnung behinderter Menschen. Also das ist der Punkt, glaube ich: Ja, es würde helfen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Ich glaube, man sollte nicht um sich selbst kreisen. Man sollte danach keine Selbstgeißel auspacken, also nicht sagen “Oh, ich bin ein ganz schön schlimmer Mensch, weil ich nicht wusste”. Aber auch nicht abwehren und alles festhalten wollen, was man mal hatte. Aber man kann es lieb haben. Und ich glaube mit so einer kritischen Selbstauseinandersetzung, ist es dann viel leichter, sich anderen Menschen zu widmen. Und vor allem dann den vielen anderen Menschen, weil wir einfach eine super diverse Gesellschaft sind und das nicht seit Neuem so ist, sondern schon immer so war. Nur dass wir eine deutsche Geschichte haben, die das einmal nicht wollte.

Frieda Ahrens: 
Du hast gerade schon angesproche: Ich glaube, wir müssen die Zuhörer:innen noch mal kurz abholen, weil wir haben gerade sehr allgemein gesprochen. Ich finde gerade bei Inklusion – darum geht es ja, du hast Ableismus angesprochen, das ist das Thema des Buches – aber es ist ja ein viel komplexerer, größerer Bereich, wo alles reinspielt. Deswegen finde ich es auch immer wichtig, nicht nur Schlagwörter oder nur auf dieses eine Thema zu schauen.
Aber, um alle mal reinzuholen ins Thema, vielleicht noch mal ganz kurz dazu: Du schreibst in deinem Buch von einem medizinischen und einem sozialen Modell. Diese Begriffe tauchen immer wieder auf. Magst du die nochmal erklären? Um alle irgendwie geschichtlich, wenn es um das Thema geht, auch noch mal abzuholen?

Hadija Haruna-Oelker: 
Also ich versuche es kurz und knapp. Das kann man natürlich alles auch nachrecherchieren. Es kommt aus dem Bereich der diese Disability Studies, also der Studien der Behinderung. Das ist eine soziologisch, politisch, politikwissenschaftliche, im zweiten Kern, Betrachtung von Behinderung als ein Phänomenmerkmal und Lebensbeschreibung von Menschen. Also, das mir auch ganz wichtig ist, es ist ein Sachbuch, das handelt von Behinderung, gespiegelt an anderen Merkmalen, die wir biografisch mitbringen, weil ich zum Beispiel aus einer schwarzen Perspektive schreibe. Aber es betrachtet das politisch. Und jetzt kommen wir eben auf das soziale und medizinische Modell. Medizinisch sagt es ja schon: die Betrachtung eines Körpers diagnostisch. Also: Was hast du? Warum bist du so? Hast du eine Erkrankung oder hast du eine Behinderung ohne Erkrankung? Wie ist deine Psyche aufgestellt? Hast du eine Diagnose? Das ist die medizinische Betrachtung eines Menschen. Darum geht es mir nicht.
Es sind individuelle Erfahrungen, die man auch Beeinträchtigungen nennt. Also das ist auch noch mal ein Wort. Behinderung wiederum ist auch ein politischer Begriff. So wie Schwarzsein es auch ist. Und blickt er darauf, wie sind die Strukturen vorgegeben, denen ein behinderter Mensch lebt und beispielsweise keine Zugänge hat, nicht teilhaben kann, nicht partizipieren kann bzw eben ausgeschlossen wird, weil die Segregation, was nichtbehinderte und behinderte Menschen angeht, eines der großen Systeme in Deutschland ist, über das nicht und wenig oder gar nicht gesprochen wird. Stichwort “Schule”, klingelt bestimmt schnell bei den Leuten. Also genau Förderschulen, früher Sonderschulen genannt, und sogenannte Regelschulen, sogenannte Regelkinder, sogenannte I-Kinder usw. Das sich nicht auskennen über die verschiedenen Behinderungsformen, ohne gleich wieder ins Medizinische abzudriften, sondern nur zu sagen: Natürlich gibt es unterschiedliche Beeinträchtigungen und dadurch Bedarfe. Und so kommen wir dann zur Inklusion eben und auch der Frage, was die eigentlich bedeutet.
Und das ist das Thema meines Buches, weil ich nicht nur die These alleine vertrete, sondern weil es de facto sich immer wieder zeigt, dass in unserer Gesellschaft keine Vorstellung von Inklusion da ist, obwohl sie ein Menschenrecht ist. Und das sie sich in den Strukturen nicht durchsetzt und auch damit die UN-Charta der Behindertenrechtskonvention, die 2009 von Deutschland gezeichnet wurde, nicht umgesetzt wird.

Frieda Ahrens: 
Das will ja alles in die Richtung gehen, dass man wegkommt von Kategorisierungen. Du schreibst aber auch, dass es einen Widerspruch gibt, weil es auch Kategorien für behinderte Kinder braucht, damit es in dem System, wie es das jetzt gibt, gut für sie weitergeht.

Hadija Haruna-Oelker: 
Ja, das ist ein sehr großes Kapitel – diese Etikettierungen. Und das lässt sich tatsächlich nur in so einer wirklichen Breite erzählen. Deswegen war es auch so gut für mich das mal auszuerzählen, weil diese Recherche war wirklich komplex. Weil ich sie natürlich selber gehen musste mit dem Kind, das ich habe, weil das ist ja auch Ausgangslage. Ich sagte es schon: Ich begleite ein behindertes Kind. Und deswegen musste ich mich mit Kategorien auseinandersetzen, um festzustellen, was ist eigentlich mit den Kindern, die in keine Kategorie passen? Ich meine, auch ich selber habe als Kind die Erfahrung gemacht, in keine Kategorie zu passen. Bis heute mache ich die Erfahrung, dass man mich kategorisieren will und viele andere Menschen kenne ich auch, die das tun. Aber da ist es natürlich so und jetzt kommt es natürlich. Also Behinderung bedeutet natürlich, egal welche es jetzt ist, dass es Barrieren gibt, die gesellschaftlich gemacht sind. Also wenn ich jetzt zum Beispiel zu einer Lesung komme und da gibt es keine Gebärdensprache, dann kann ich als taube Person nicht teilnehmen. So, das ist ein ganz praktisches Ding. Und wenn Veranstaltungsreihen DGS, also deutsche Gebärdensprache nicht vorsehen in der Dolmetschung, dann gibt es die halt nicht, dann sind sie halt nicht dabei. Und deswegen ist die Beeinträchtigung natürlich ein Thema für die Person, aber keines, das man irgendwie mit Leid, Mitleid oder als Defizit betrachten sollte, weil es das nicht ist. Sondern die Normalität dieser Person. Und jetzt kommen wir zu diesem Punkt: Ich stelle natürlich das “Normal” in Frage und dadurch stelle ich auch Etiketten in Frage. Wenn ich nämlich davon ausgehe, dass alle Menschen behindert oder nichtbehindert sind oder im Laufe ihres Leben eine Behinderung erwerben oder nicht darüber reden oder gar nicht darüber nachgedacht haben, dass sie eine haben, was sehr oft der Fall ist, dann würde die Welt anders aussehen und dann würden diese Etiketten eher vielleicht dazu dienen, zu sagen: Was brauchst du, damit du dabei bist? Damit es dir gut geht? Damit deine Zeit, Crip-Time, mit einberechnet wird? Um einfach, genau so wie alle anderen, mit durchs System zu kommen.

Frieda Ahrens: 
Jetzt gibt es, wie ich finde, nicht nur in diesem Kampf, sondern in vielen Kämpfen, auch wieder diesen Widerspruch zwischen der Kollektivierung: Wann ist sie sinnvoll? Um einen Kampf zu kämpfen, braucht es ja ein Kollektiv, das sich wehrt. Oder das anmerkt: So wird mit uns umgegangen und das ist nicht okay. Und das ist nicht nur bei Behinderung so, das ist auch so, wenn man über queere Menschen spricht, dass also im Grunde alle marginalisierten Gruppen. Also ich habe das Gefühl dieses Kollektiv zu schaffen ist vielleicht sogar schwieriger in diesem Bereich, weil “auf die Straße gehen” zum Beispiel schwieriger gemacht wird. Also: Wann ist so eine Kollektivierung überhaupt möglich? Ich finde dieses Thema so spannend: Wer ist es? Wie wäre es damit drin? Dann sagst du auch: Es gibt Menschen, die sind sich überhaupt nicht bewusst, dass sie behindert sind. Also ich weiß nicht, ob alle Brillenträger:innen zum Beispiel direkt daran denken würden, dass sie eine Behinderung haben, obwohl das ja so ist, wenn es keine Brillen geben würde.

Hadija Haruna-Oelker: 
Aber es ist so ein wichtiger Punkt. Damit hast du schon das beste Beispiel gegeben, das mit der Brille. Also wenn meine Sehbehinderung sozusagen, weil ich sie mit einer Brille korrigieren kann, keine Behinderung ist, dann zeigt das, dass Behinderung eine Konstruktion ist. Es gibt also anerkannte Dinge, die werden dann nicht dazu gezählt. Und es zeigt auch, dass dieses Stigma und dass diese Ablehnung eben auch noch – und ich glaube, das ist die Antwort auch darauf, es gibt einfach noch etwas – und das ist schon für mich wichtig, oder das habe ich für mich so erfahren, aus einer kritischen, machtkritischen Perspektive: Das ist noch mal ein Layer dazu gibt bei Behinderung. Weil durch viele, viele Jahre eugenischen Forschen, ein Einspeisen in unser System und in ein Denken, das eben Körper und nicht gesunde Körper und behinderte Körper ablehnt. Ist auch so ein bisschen mit: Was ist schön?, Welche Körper sind schön, was sind schöne Menschen? Da vermischt sich das ja auch mit Bodyismen und soweiter. Das sich das so eingespeist hat, dass das so wenig hinterfragt wird. Das heißt, die Internalisierung, das aufzunehmen und selbst zu denken, ist auch bei behinderten Menschen groß, weil die Norm sehr stark ist. Und dann zu sagen: Jetzt formiert sich eine Bewegung aus so einer heterogenen Community, will ich jetzt mal sagen, heraus ist ja noch ein Ding. Also nicht jeder behinderte Mensch ist politisch, nicht jeder schwarze Mensch, nicht jeder queere Mensch. Nicht jeder bezeichnet sich als queer. Also das ist ja sowieso komplex. Auf die Straße gehen dann das zweite. Und dann kommen aber, und das ist halt einfach der Punkt, Regeln und Gesetze. Und jetzt komme ich wieder auf Struktur. Unsere Gesellschaft ist nicht so ausgerichtet, obwohl sie die Behindertenrechtskonvention geschrieben hat, diesen Bewegungen – den Bürgerrechtsbewegung, der Behindertenrechtsbewegung – zu folgen, die sich Zeit nach ‘45 beginnend in den USA formiert hat, um für ihre Rechte zu kämpfen, so wie alle anderen marginalisierten Gruppen übrigens auch, auf unterschiedliche Weise ihnen eben Recht zu geben. Und das macht es so schwer, weil ich würde behaupten, hier läuft der Hase anders rum – sagt man, glaube ich nicht, egal. Dass man erst manche Gesetze und Regelung haben muss. Menschen das erfahren, dass das jetzt so ist, dass man hier so Gebäude jetzt so bauen muss, dass die Klassen so aussehen, dass man seine Didaktik ändern muss. Das ist dann Gesetz. Und dann verändern sich die Menschen. Und das sieht man eben auch daran, dass da, wo diese Räume so ausgestaltet sind, und diese Begegnung einfach stattfindet, Selbstverständlichkeit entsteht. Und dann fangen die Menschen an, nachzudenken. Man muss nicht sagen, Raul Krauthausen sagt das gerne immer so, wenn Lehrer Kräfte zum Beispiel sagen: “Ich habe da keine Ausbildung drin im Umgang mit behinderten Menschen”. Dann sagt er: “Meine Eltern hatten das auch nicht”, also so in der Richtung. Das ist ja auch ein Fakt. Und wer hätte jetzt auch die Ausbildung mit sich selbst, wenn man selbst eine Behinderung erwirbt? Und dann habe ich ja auch keine Ausbildung. Also es ist dieses Wegdrängen und Ignorieren hat sehr viel mit dem eigenen Wunsch, und das ist etwas sehr sehr emotional Verletzliches und Persönliches, muss jeder jetzt selbst gucken, was das macht: Die Angst davor, selbst eine Behinderung zu haben oder krank zu werden oder ähnliches. Und das ist einfach ein anderes Thema, ein sehr relevantes Thema. Und das ist die persönliche Auseinandersetzungsprozess.

Frieda Ahrens: 
Das ist jetzt vielleicht auch zu weit, aber mich hat auch gerade dein Ende des Buches – da geht es um Verletzlichkeit und Verletzlichkeit als politische Praxis. Und genau das, was du gerade sagst: Diese Möglichkeit, selbst betroffen zu werden, hat mich sehr erinnert an “Die Elenden” von Anna Mayr, wo es um Armut geht. Weil er im Grunde ist das es ja auch: Leute schieben es weg, auch aus Angst, es könnte sie auch betreffen. Das ist so irre, dass das das auslöst, weil eigentlich wäre ja die logische Konsequenz: Ich könnte auch betroffen sein, deswegen kümmere ich mich jetzt. Aber was gemacht wird ist: Ich könnte auch betroffen sein, deswegen will ich möglichst wenig damit zu tun haben.

Hadija Haruna-Oelker: 
Genau. Ich finde das Buch von Anna Mayr, als ich es gelesen habe, auch großartig. Ja, es ist eine sehr gute Vergleichbarkeit und auch eben ein Teil von diesem intersektionalen Denken, worum es mir ja auch geht. Also ein Mensch nicht nur in einem Merkmal zu begreifen, sondern in der Vielschichtigkeit, die diesen Mensch ausmacht. Und da gibt es ja auch eine Überschneidung auch zwischen Armut und Behinderung und ist ja auch noch mal ein Punkt. Und dann sind wir bei dem sehr wichtigen Stichwort Sozialdarwinismus. Und das ist ja auch die Überschrift im politischen System und wird ja sehr verurteilt von rechten Kräften und auch nicht beachtet in politischen Entscheidungen, weil eben Menschen, die arm, wohnungslos oder behindert sind, verachtungswürdig sind in bestimmten Diskursen. Und auch verfolgt wurden im Nationalsozialismus und auch hier siehst du wieder die gleiche Verbindung.
Und weil diese Ablehnung da war und nicht aufgearbeitet wurde, und das ist jetzt der springende Punkt, weil so wenig darüber geredet wurde, was es bedeutet und das Stigma blieb. Deshalb wollen Menschen das unter Umständen auch nicht sein. Und jetzt sind Menschen, ann man psychologisch betrachten – ist ja eine individuelle Geschichte: Setze mich mit etwas auseinander oder verdränge ich es lieber, weil ich das vielleicht grundsätzlich in meinem Leben auch so macht?

Frieda Ahrens: 
Das knüpft ganz gut an an das Thema des Monats beim Literaturhaus Bremen. Und zwar ist das “Privilegien”. Große Frage, ich weiß gar nicht, ich dachte, ich fand sie ganz gut. Mal gucken, ob du sie auch gut findest. Welches Privileg ist für dich das schlimmste?

Hadija Haruna-Oelker: 
(lacht erst) Oh, das ist ganz schwierig. 

Frieda Ahrens: 
Ja, nä?

Hadija Haruna-Oelker: 
Ja, weil… Also genau andersrum geantwortet. Das würde dazu führen, Dinge zu ranken, zu hierarchisieren und wichtiger als andere zu machen. Und ich bin ja eine, die für Gleichzeitigkeiten plädiert. Was es ja auch so schwer macht, alles gleichzeitig zu sehen und als gleichzeitig wichtig zu nehmen, um dann manchmal natürlich die Entscheidung zu fällen, nicht alles bedienen zu können. Aber mit dem Anspruch rauszugehen – und das ist ja auch meine Gesellschaft der Gegenseitigkeit – es immer besser für alle machen zu wollen. Wenn ich mit der Haltung unterwegs bin und dann halt sagen muss “okay, hat nicht geklappt”, dann weiß ich zumindest, was nicht geklappt hab und kann denen, für die es nicht geklappt hat, zumindest sagen “aus den und den Gründen hat nicht geklappt”. Aber muss nicht die Antwort geben “Ups, ich habe euch vergessen”. Und ich glaube, das ist ein kritischer Umgang mit einer Welt, in der halt vieles benachteiligt wird und vieles bevorteilt ist und in einer Zeit, die leider noch nicht angebrochen ist, sondern gerade rückwärts geht. Diese Diskrepanz, die im Inbalance auflösen.

Frieda Ahrens: 
Ich habe hier einen weiteren Punkt stehen, den ich vor deinem Buch glaube ich, nicht so krass auf dem Schirm hatte. Und zwar, wie sehr Feminismus und Inklusion auch verwebt sind ineinander, also sowohl. “Feminismus geht nicht ohne Inklusion” als auch “innerhalb der Inklusion gibt es ganz viele feministische Kämpfe”. Wie viel Raum, also wie viel Feminismus steckt denn in Inklusion? Was würdest du sagen? Ist das ein Kampf, der immer automatisch mit gekämpft wird, wenn man für Inklusion kämpft?

Hadija Haruna-Oelker: 
Na ja, ist ja die Frage, wie man Inklusion versteht. Also viele verstehen ja bei Inklusion, denken auch in diesem Fall, so ist es ja auch politisch gesetzt, nachvollziehbarer Weise, denken da an Behinderung und Nichtbehinderung. Also es ist aber auch ein bisschen interessant, es gibt so viele – jetzt muss ich kurz springen – so viele falsche Definitionen wie bei der Inklusion, wie bei der Integration. Ich fange mal bei der an, da gibt es ja sozusagen das Modell: Die kommen jetzt dazu und das doch schön, dass sie da sind und dann sollen sie mal mitmachen bei unserem Spiel. Dann gibt es das Modell Integration: Na ja, das ist keine Einbahnstraße. Also müssen sich beide aufeinander zu bewegen in dieser Straße, die es da halt gibt und dann ist halt die Frage, wer gibt jetzt wie viel auf und wo findet man Kompromisse? Und die Inklusion, die macht aber was anderes auf. Die sagt halt: Alle noch mal neu. Neuer Kreis, alle dorthin bewegen, einer ist schneller dort, der andere langsamer, der andere braucht diese Bedingung. Und wenn wir dann in dem Kreis endlich angekommen sind, dann müssen wir darüber nachdenken, wie auch alle in diesem Kreis gut leben können. Man merkt, das ist schon weit komplexer und komplizierter. Wenn Feminismus – es gibt ja Menschen, die verstehen Feminismus nur als Frauensache – sondern als Gleichberechtigungsprinzip verstanden wird, dann ist natürlich Inklusion ein Teil davon. Aber jetzt wissen wir ja, dass Feminismus auch unterschiedlich ausgelegt wird. Also wenn man Feminismus eben als ein Gleichberechtigungsprinzip betrachtet und ein inklusives – ist es das automatisch – und es ist vor allem auch ein demokratisches Prinzip. Weil – und das mache ich gerne als Brücke – demokratisch auch deshalb, wenn wir einfach nur auf das Grundgesetz schauen, in dem ja eigentlich de facto intersektionale Regeln drinstehen. Ich habe mal irgendwann gesagt, man könnte es sogar als “woke” bezeichnen, aber das war eher als Witz gemeint, da leider “woke” ja in unserem Diskurs so negativ behaftet ist und nie im deutschen Diskurs irgendwie positiv gelabelt war. Aber wenn wir wirklich sozusagen die Achtsamkeit dazunehmen auf Grundgesetz zu achten, alle wertzuschätzen, teilhaben zu lassen, also inklusiv zu sein, dann würden wir der feministischen Idee, der Gleichberechtigung und der Menschenrechte natürlich näher kommen.

Frieda Ahrens: 
Kann man das sich nicht einklagen, frage ich mich immer. Kann ich nicht sagen: 2009 habt ihr mal was unterschrieben – es ist noch nicht so, ich verklage euch jetzt.

Hadija Haruna-Oelker: 
Ja, ich meine Deutschland wird gerügt. Also von der UN. Also wir wurden wieder gerügt, 2023, für die Nichtumsetzung der Inklusion in der Struktur. Und die Pressemitteilung – das ist dann wieder journalistisch, da muss man halt genau hinschauen, da hilft es dann Journalistin zu sein – die Pressemitteilungen, die dann aber heraus gesendet werden, wo sozusagen die Schritte Deutschlands als Erfolg gefeiert werden. Die dann einen falschen Frame setzen und im schlimmsten Fall bei Journalisten ankommen, die nicht so viel Ahnung haben oder sich noch nie damit beschäftigt haben oder einfach nur die Pressemitteilung rezitieren und sich vielleicht sogar freuen über die positive Botschaft. Dann entsteht ein Eindruck, der unter Umständen falsch ist. Und dann entsteht auch kein Druck oder nur der Druck bei denen, die betroffen sind, wie so oft. Und die, darüber haben wir ja schon gesprochen, haben eine kleine Lobby. Und natürlich, und das ist ja auch ein Teil meines Buches, also damit sich etwas im sozialen Gerechtigkeit Sinne bewegt, braucht es Verbündete. Es braucht genau diejenigen, die von etwas nicht betroffen sind, weil sie auch anders wahrgenommen werden. Und ich verstehe mich ja zum Beispiel auch als eine Verbündete meines Kindes. Aus dieser Perspektive heraus habe ich ja auch mein Buch geschrieben.

Frieda Ahrens: 
Wir sind gegen Ende schon von diesem Podcast und ich würde gegen Ende noch mal einen großen Aspekt, der irgendwie wahrscheinlich immer kommt und du bist schon müde. Aber es ist natürlich dieses: Was kann jeder, was kann jede von uns tun? Und weil du ja auch schreibst, dass das Ansprechen von zum Beispiel ableitistischer Sprache oder irgendwie von Diskriminierung oft dich nicht so kämpferisch fühlen lässt, sondern eher allein in der Position. Und ich frage mich, was man dann rät? Trotzdem weitermachen, aber auch mal nicht sagen, weil man denkt “Ey, ich kann nicht schon wieder”. Also wie? Was ist eine gute Position? Welche Erfahrung hast du da gemacht?

Hadija Haruna-Oelker: 
Ja, das auch mit dieser Frage beschäftigt mich gerade viel. Wie reden wir miteinander oder wie können wir noch miteinander reden? Und wie viel ist dieses “Dinge ansprechen” auch schon gelabelt? Also das ist echt auch ein Problem. Also ich habe “woke” kurz angesprochen, also es gibt jetzt einfach eine starke Tendenz der Politisierung einer Anti-Woke-Haltung, die es einfach einfacher macht weg zu ignorieren und ein Problem, weil dadurch auch bestimmte Personen, die vielleicht eine Achtsamkeit haben oder Wissensträger:innen sind, die vielleicht auch müde sind, zu erklären, auf Menschen stoßen, die das, was sie zu sagen haben, ablehnen, weil es jetzt auch leichter geworden ist. Diejenigen wiederum, die aber die Wissensträger:innen sind, haben vielleicht auch eine andere Tonalität. Der Ton ist ja sowieso rauer geworden und auch definitiv in Social Media anders als im echten Leben. Und dann alles in so einer Form von “sich gar nicht mehr zuhören” auswirkt und vielleicht auch in unterschiedlichen Formen geschrieben wird. Und ich glaube deswegen ist mein Appell: Zuhören, aushalten und seine eigenen und das Gegenüber immer als eine Einladung annehmen, sich der Frage zu widmen oder den Meinungen meines extremsten Gegenpols und mich damit kritisch auseinandersetzen und mich fragen: Warum halte ich das nicht aus? Was könnte ich von dieser Person lernen? Nicht vielleicht, weil ich es so sehe, aber weil ich vielleicht dann die Gesellschaft besser verstehe. Und ehrlich gesagt mache ich das zum Beispiel ganz viel mit antidemokratischen Stimmen gerade. Um zu verstehen, wie sie dorthin gekommen sind. Um zu verstehen, warum ein antidemokratischer Ant-Woke, Anti-Menschenrechts-Diskurs, damit ja auch und Anti-Inklusion und alles das, was unser Zusammenleben schön machen würde, ablehnen. Woher das kommt und das hilft mir, weil dann gehe ich anders in Gespräche. Weil wenn ich, und das wäre mein letzter Punkt, wenn man jemanden trifft, ihn nicht gleich in eine Schublade stecken, sondern abwarten. Auch den dritten Satz. Auch wenn ein falsches, vermeintlich falsches Wort kam. Und zum Beispiel eher die Reaktion abwarten, wie es ist, wenn ich korrigiere. Oder das Angebot mache, zu sagen: Guck mal, die Welt noch komplexer und dann vielleicht noch einen Schritt weiter zu gehen. Und wenn die Person ablehnt, die Ablehnung anzusprechen und sagen “Mich irritiert die Ablehnung. Das ist schade. Eigentlich wollte ich gerne mit dir sprechen.”

Frieda Ahrens: 
Schöne letzte Worte. Danke dir für das Gespräch.

Hadija Haruna-Oelker: 
Ich danke dir für die Einladung.

Frieda Ahrens: 
Und ich danke natürlich auch wie immer allen lieben Hörer:innen, die uns bisher verfolgt haben, für euer Interesse und eure Zeit. Auf Wiederhören.

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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.