Letzte Woche ist der neueste Essayband von Daniel Schreiber erschienen. Nach Nüchtern, in dem Daniel Schreiber über seine Alkoholsucht schreibt und Zuhause, in dem er sich mit der Frage auseinandersetzt, was es bedeutet, an einem Ort zu Hause zu sein, geht es dieses Mal in Allein darum, was es bedeutet allein zu sein. Beim Lesen des schmalen Bandes fühlt es sich fast an, als würde sich nach den ersten beiden Büchern ein Kreis schließen.
In den ersten Tagen nach Erscheinen des Buches haben wir bei She Said bereits einige Exemplare verkauft. Das Interesse ist groß! Ich glaube, das Thema des Alleinseins ist ein Thema, das uns seit eineinhalb Jahren pandemiebedingt noch viel stärker beschäftigt als sonst. Im Gegensatz zu dem Wort einsam steht hinter allein oft eine selbstgewählte Entscheidung:
„Ich bin einsam – ich entscheide mich dazu, den Abend allein zu verbringen.“
Diese Unterscheidung ist während der zahllosen Lockdowns immer stärker verschwommen: es gab immer neu formulierte Kontaktbeschränkungen, irgendwann war es nur noch erlaubt, Personen desselben Haushalts zu treffen. Doch was machen Menschen, die alleine in ihrem Haushalt leben? Was machen Menschen, deren Kinder oder Partnerpersonen nicht im selben Haushalt leben? Was machen all die Menschen, die nicht in hetereonormativen Familienmodellen leben? Plötzlich drohten alleinlebende Menschen zu vereinsamen, doch im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen (ich denke dabei an Kinder oder Lehrer*innen), wurde über das Schicksal alleinlebender Menschen öffentlich kaum gesprochen.
Das hat sicherlich viel mit der Scham zu tun, über die auch Daniel Schreiber in seinem Essay schreibt. Menschen, die aus den sogenannten klassischen Familienmodelle herausfallen, empfinden möglicherweise Scham darüber – Scham darüber, allein zu sein. „Ich habe nie die bewusste Entscheidung getroffen, allein zu leben. Im Gegenteil, ich bin die längste Zeit davon ausgegangen, dass ich mit jemandem mein Leben teilen und zusammen alt werden würde“, schreibt Daniel Schreiber. In seinem Essay spricht er mit großer Offenheit darüber, dass er sich in seinem Kopf jahrzehntelang Erklärungsmuster zurechtgelegt hat. Bin ich alleine, weil etwas mit mir nicht stimmt? Bin ich alleine, weil ich zu beschädigt bin, um geliebt zu werden? Bin ich unliebbar? Diese Gedanken sind fest verwoben mit etwas, das Daniel Schreiber als queere Scham bezeichnet.
Bevor ich Allein gelesen hatte, kannte ich den Begriff der queeren Scham nicht, aber er kommt mir so erschreckend vertraut vor. „Scham, vor allem im Leben queerer Menschen, ist mehr als ein Gefühl“, lese ich an einer Stelle – und muss nicken. Menschen, die von der gesellschaftlichen Normvorstellung abweichen, sind es gewohnt Scham zu empfinden: für ihre Identität, ihre Sexualität, ihre Körper, ihr Auftreten, ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse – für ihre Existenz. Wir leben in einer Gesellschaft, die von der normativen Vorstellung ausgeht, dass alle Menschen heterosexuell und cisgeschlechtlich sind – alle Menschen, die von dieser gesellschaftlichen Norm abweichen, wird dieses Schamgefühl bekannt vorkommen. Als trans Mann kenne ich Scham. Scham ist ein oft schmerzhaftes Gefühl.
Vergangenen Donnerstag habe ich in der Berliner Buchhandlung ocelot die Premierenlesung von Daniel Schreiber besucht. Die Moderatorin Maria Christina Piwowarski sprach mit dem Autor auch über das Phänomen der queeren Scham und stellte eine Frage, die wahrscheinlich viel zu groß und umfassend ist, um sie beantworten zu können:
„Was muss unsere Gesellschaft tun, damit queere Menschen keine Scham mehr empfinden?“
Ich habe keine einfache Antwort auf diese Frage. Doch ich glaube, dass Repräsentation dabei eine entscheidende Rolle spielt: je öfter wir uns selbst in Büchern, Serien, Filmen und der Öffentlichkeit sehen, desto eher erleben wir uns irgendwann als selbstverständlichen Teil einer Gesellschaft und nicht mehr als eine Art Fremdkörper. Daniel Schreiber trägt mit seinem wunderbaren Essayband Allein einen Teil dazu bei. Ich musste bei der Lesung herzhaft darüber schmunzeln, als er erzählte, wie er manchmal mit mehreren Nadeln auf der Couch sitzt und an einem Pullover strickt. Vor meinem inneren Auge, taucht sofort der britische Turmspringer Tom Daley auf, der im Sommer strickend auf der Tribüne saß und damit für Furore sorgte. Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der das lange Zeit schwer vorstellbar war, dass Männer stricken oder Yoga machen. Wie schön, dass sich das langsam ändert.
Abschließend bleibt mir nur der Wunsch, dass möglichst viele Menschen den Essay von Daniel Schreiber lesen werden. Ich lebe zwar allein, fühle mich aber durch das Buch weniger allein – und das ist schön.
Zum Weiterlesen:
ALLEIN | Daniel Schreiber | ESSAY Hanser Berlin | Berlin 2021 | 160 S. | €20,00
ZU HAUSE | Daniel Schreiber | ESSAY Hanser Berlin | Berlin 2017 | 144 S. | €18,00
NÜCHTERN | Daniel Schreiber | ESSAY Hanser Berlin | Berlin 2014 | 160 S. | €16,90