Was bedeutet es, aus einer privilegierten Position heraus über Diskriminierungen zu schreiben? Und wie schreibt man über Stereotype, ohne sie aus Versehen zu reproduzieren? Diesen Fragen geht Luca Kieser im Interview mit Sophie Anggawi für den Literaturhaus Podcast nach. Während der Arbeit an seinem Roman Pink Elephant musste er seine eigene Position in der Gesellschaft viel reflektieren. Wie er das gemacht hat, berichtet er in dieser Folge.
Am 25. Februar 2025 liest Luca Kieser in unserer Reihe Satzwende aus seinem neuen Roman Pink Elephant und stellt seine Kolumne vor, die er für unser Literaturmagazin geschrieben hat.
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Sophie Anggawi:
Ich darf heute im Literaturhaus Podcast sprechen mit Luca Kieser. Er ist Literaturvermittler und Autor und wir sind auf ihn gekommen, weil das Thema des Magazins vom Literaturhaus diesen Monat „Privilegien“ ist. Und da kam dein Name Luca einfach ganz automatisch zur Sprache. Kannst du dich damit identifizieren? Kannst du damit was anfangen, dass dein Name beim Thema Privilegien fällt?
Luca Kieser:
Ja, hallo, Erst mal! Ja, kann ich verstehen. Freut mich auch sehr. Fühle ich mich erstmal sehr geehrt. In „Pink Elefant“, meinem aktuellen Roman, geht es um alles Mögliche. Aber es geht eben auch darum, dass Vincent, ein 14-jähriger Junge, durch seine Freundschaft zu zwei anderen Jugendlichen, Tarik und Ali, nach und nach versteht, wie privilegiert er eigentlich ist.
Das ist jetzt nicht meine Geschichte, die ich da erzähle. Aber auch ich bin sehr privilegiert aufgewachsen und habe dazu viel gearbeitet in den letzten Jahren. Nicht nur, weil ich das auch musste. In diesem Arbeitsprozess.
Sophie Anggawi:
Bist du zuerst zum Thema Privilegien gekommen und hast dann begonnen zu schreiben. Oder hast du erst geschrieben und hast dann begonnen, auch deine eigene Position in der Gesellschaft zu reflektieren?
Luca Kieser:
Das ist so ein bisschen eine schwere Frage für mich, weil dieser ganze Arbeitsprozess an „Pink Elephant“ so lange sich hingezogen hat. Also so die ersten Sätze, die ersten Szenen habe ich geschrieben vor ungefähr zehn Jahren, und ich könnte das jetzt nicht mehr sagen. Also ich kannte sicher das Wort Privileg, aber ich glaube nicht in der Art und Weise wie heute.
Und ich glaub, es hat auch deshalb so lange gebraucht, weil ich da bestimmte Sachen auch erstmal verstehen musste. Über meine Wahrnehmung von der Welt, von anderen Menschen. Weil Privilegien ist ja so das Schwierige, dass wenn man sie hat, weiß man gar nicht so unbedingt, wie sehr sie auswirken. Also es gibt Studien darüber, wie das auch zunimmt, dass das Ausmaß der Privilegien unterschätzt wird, je mehr man davon hat. Also die Leute, die sehr viele davon haben, haben so das Gefühl, Privilegien sind jetzt gar nicht so wichtig. Die Leute, die sie nicht haben, verstehen sehr viel mehr automatisch, von Natur her sozusagen.
Sophie Anggawi:
Aber vielleicht ist auch die Frage: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei. Vielleicht ist das auch so eine Frage?
Luca Kieser:
Würde mir gefallen. Wenn man diesen Schreibprozess von Pink Elephant jetzt so im Rückblick beschreiben müsste, dann ist es sicher so. Hat so ein bisschen was von Huhn und Ei. Ich habe viel Hilfe gebraucht. Also einige Leute haben mich da sehr lange begleitet, insbesondere ein guter Freund von mir, Muhammet Ali Baş, mit dem ich jetzt auch zusammen die Kolumne für das Literaturhaus Bremen zum Thema Privilegien geschrieben habe. Also es war ein Hin und Her.
Sophie Anggawi:
Inwiefern hat dir dein Freund Muhammet Ali Baş dann auch geholfen, eine andere Perspektive dabei einzunehmen?
Luca Kieser:
Na ja, wir reden über Themen wie Privilegien, aber auch über Themen wie Rassismen, weißer Blick, Diskriminierungsformen. Das betrifft uns alle und wir sind da in einem ständigen Gespräch darüber. Wir haben einige andere Projekte zusammen durchgeführt, wo es auch um um diese Themen geht. Ich glaube, er hat mir aber als allererstes dadurch geholfen, dass er von Anfang an an dieses Projekt geglaubt hat.
Und ich habe sehr oft oder immer wieder große Zweifel daran gehabt. Nicht weil ich nicht geglaubt hätte, dass diese Geschichte von diesem Vincent spannend ist. Eher, weil ich mir gedacht habe, ich muss darum um diesen Vincent herum so viel anderes erzählen, was ich vielleicht nicht kann.
Sophie Anggawi:
Rassismen. Diskriminierungsstrukturen?
Luca Kieser:
Ja, also ich habe ja schon erwähnt, die beiden Freunde von Vincent sind eben Tarek und Ali. Ali heißt in Wahrheit gar nicht Ali, sondern Alexander. Aber die beiden haben einen ganz anderen Hintergrund als Vincent und auch einen ganz anderen Hintergrund als ich. Und da kommt man so ein bisschen in diese Debatte rein: Wer kann über was wie gut erzählen?
Ich glaube schon daran, dass jeder jede über alles erzählen können darf, wenn man das so sagen kann. Aber ich finde schon auch so die Frage sehr berechtigt: Soll ich auch über die Sachen erzählen, also bin ich jetzt der Richtige? Denn den Alltag von Alis Mutter zum Beispiel zu beschreiben. Und du hast es gesagt: Natürlich, da spielen Rassismen oder bei ihr jetzt noch mal andere Diskriminierungsformen eine große Rolle.
Bin ich, Luca, der Richtige, der das zu Papier bringen kann und auch quasi adäquat abbilden kann? So, ich glaube nicht, dass ich der Richtige bin. Ich glaube, wenn ich nur das getan hätte, wäre das auch irgendwie total seltsam. Es ist, glaube ich, in diesem ganzen Kontext von Vincents Geschichte irgendwie angebracht oder auch notwendig. Aber da kam dann eben so die Frage ins Spiel: Wenn ich das mache, wie mache ich das? Und auch dort hat Ali mir einfach unter anderem (nicht nur er) viel geholfen.
Sophie Anggawi:
Also du hast dich gefragt, ob die Geschichte von Vincent erzählt werden muss, sondern du hast dich gefragt, wie du die Geschichte auch von den Menschen in Vincents Umfeld erzählen kannst, ohne ja am Ende vielleicht auch Stereotype zu bedienen?
Luca Kieser:
Also ich glaube – kurz, um das vorneweg zu sagen – ich habe eine Menge Stereotype in dem Stück bedient. Ich glaube, ich hoffe, dass ich keins aus Versehen bedient habe, sondern die dann auch irgendwie gebrochen habe oder irgendwie thematisieren konnte, dass es Stereotype sind, Klischees, wie auch immer.
Sophie Anggawi:
Hast du ein Beispiel, wo du das Gefühl hast, das hat gut funktioniert?
Luca Kieser:
Also meine Lieblingsstelle in dem Buch ist die: Also Vincent fängt irgendwann an, den Tarik immer von der Schule abzuholen und kriegt dann sozusagen von Tariks Papa noch so Frühstück gemacht. Oder es gibt halt Frühstück und Tarik und auch seine große Schwester Tamira haben nicht so richtig Lust auf Frühstücken, sind eigentlich eher im Bad und deswegen frühstückt immer Vincent mit dem Vater. Und der Vater ist Taxifahrer, aber eigentlich promovierter Mathematiker, also der eben aus Syrien geflüchtet ist.
Aber jetzt nicht in den Zehnerjahren irgendwann, sondern viel früher. So, ich glaube, das ist schon ein bisschen Klischee. Aber so in diesem ganzen Kontext des Frühstückens erzählt dann der Vater immer viele Geschichten und unter anderem einmal von einem Mathematiker. Und Vincent stellt sich vor – weil Tariks Vater sagt nie den Namen – stellt sich eben so einen arabischen Gelehrten vor, der durch irgendwie eine Wüstenstadt geht und einen Turban auf hat oder so und kommt gar nicht drauf, dass der Vater Gottlob Frege meint, was ein deutscher Logiker, Philosoph, auch Mathematiker, so um die Jahrhundertwende, 18., 19. und 20. Jahrhundert war, der in Jena gelebt hat.
Und dann sagt der Vater auch so: „Ja, und der war in Jena“. Und Vincent ist so'n Wessi. Er kennt Jena nicht und stellt sich dann so Jena, eine Wüstenstadt, weil das so ähnlich klingt wie Jerusalem, Jericho und läuft lange in diesem Glauben rum. Und irgendwann kommen alle drauf und er wird sehr ausgelacht von Tarek usw. Und ich glaube diese ganze Entwicklung, die ist voll von Klischees.
Sophie Anggawi:
Es ist ein gutes Beispiel. Tatsächlich sind diese Frühstückszenen aber auch für mich spannend. Ich fand es ganz schön, was für Bilder du auch gemalt hast in deinem Buch. Diese Brezel, die Vincent morgens immer frühstückt. Und da drauf macht er sich Nutella und darauf Schafskäse. Isst du das so? Oder war das tatsächlich eine Idee, das so zu verbinden? Alles miteinander?
Luca Kieser:
Ich habe inzwischen einige Leute kennengelernt, die das richtig geil finden. Also so auch mit Honig statt. Nutella ist auch sehr gut. Aber ja, also Schafskäse, Ziegenkäse mit was Süßem. Sehr lecker. Das ist jetzt auf einer Brezel stattfindet, Das hat schon was damit zu tun, dass dieser Roman nicht in einer Großstadt in weiß ich nicht in Berlin oder in Frankfurt oder so spielt, sondern eben in einer überschaubaren Kleinstadt und eindeutig in einer schwäbischen Kleinstadt.
Leute, die Tübingen kennen, werden darin auch Tübingen wiedererkennen. Man muss Tübingen nicht kennen, um um den Roman lesen zu können. Aber das war mir schon wichtig, weil bei allem, was ich an einigen Stellen glaube ich riskiert habe, im Sinne von Aneignung und von etwas erzählen, was ich eigentlich nicht so gut kenne oder nur vermittelt kenne, habe ich mir gedacht: ich überstrapaziere das nicht, sondern bleib auch an einigen Stellen sozusagen bei mir. Und ich bin eben in Tübingen aufgewachsen und weiß, wie es in so einer 100.000 Einwohner Innenstadt zugeht und was dort für Dynamiken entstehen.
Sophie Anggawi:
Das fand ich auch ganz spannend. Du bleibst ja tatsächlich auch sehr nah an der Realität dran. Also es spielt während der WM 2006 in Deutschland, das ist so passiert und die Mutter von Vincent vom Protagonisten arbeitet auch für einen Politiker namens Boris aus Tübingen, der darauf hofft, Oberbürgermeister zu werden. Wieso war dir dieser diese Nähe zur Realität dann auch wichtig?
Luca Kieser:
Wenn ich jetzt ein Buch schreibe, in dem es um Privilegien geht, aber auch über vielleicht Männer, die ihre Privilegien nicht wirklich oder nicht ausreichend reflektieren, auch über Rassismus nachdenken, dann führt eigentlich kein Weg daran vorbei, nicht auch zu thematisieren, dass Tübingen eben jetzt schon weiß, 16 Jahre oder mehr, also viele, viele Jahre diesen Bürgermeister immer wieder gewählt hat.
Es war eine Fügung, dass er 2006 zum Oberbürgermeister gewählt wurde. Das erste war, dass ich diese WM, das Sommermärchen 2006, im Buch haben wollte. Das hat ein bisschen Gründe darin, dass das in der Forschung mittlerweile, glaube ich, nicht unumstritten, aber doch sehr zu einem Symbol von einer Veränderung in der Gesellschaft in den Nullerjahren geworden ist. Die WM ist sicher daran nicht schuld, aber in ihr ist einiges zutage getreten.
Man durfte wieder stolz sein darauf, deutsch zu sein, Deutsche zu sein oder das toll zu finden. Also unter dieser Überschrift irgendwie zusammengefasst werden. Das Motto damals war „die Welt zu Gast bei Freunden“. Es gibt Studien wie sogenannte fremdenfeindliche Übergriffe einfach zugenommen haben über das Turnier. Also wenn man einfach schaut, wie viel davor, wie viel danach, da hat sich was verändert.
Wie gesagt, ich glaube nicht, dass die WM selbst jetzt da irgendwie schuld daran war. Aber sie wird in der Forschung immer wieder als so was wie eine Metapher herangezogen. Und genau in dem Sinne wollte ich sie auch im Buch haben, zumal es etwas ist, woran glaube ich alle, die damals schon, also sagen wir über zehn Jahren oder so war, irgendeine Erinnerung haben. Es ist schon ins kollektive Gedächtnis eingegangen, glaube ich.
Sophie Anggawi:
Dadurch, dass du den Roman so unterfüttert hast mit ganz realen Ereignissen und Personen hättest du ja auch eine fiktive Stadt wie Tübingen malen können. Ich hatte das Gefühl, dass das eine Art und Weise ist, die Geschichte auch noch mal zu erden und deutlich zu machen: Dass auch die Rassismen die passieren, auch die Diskriminierungen, die aufgrund von Stereotypen passieren, auch in der realen Welt stattfinden.
Luca Kieser:
Ich glaube ich stimme dir zu. Das ist so. Das hat jetzt so ganz trockene poetologische Gedanken. Ich weiß nicht, ich glaube, der Roman da gibt es viel drin, was sehr allgemein gehalten ist. Also zum Beispiel gibt es auch von diesem Personal – nur ein relativ kleiner Teil davon hat wirklich Namen. Also Ali, Tarek, Vincent haben wir jetzt schon gesagt, aber diese ganzen Eltern zum Beispiel, die man weiß eigentlich nicht, wie die heißen.
Es ist immer die Rede von „meiner Mutter“, sagt Vincent. Oder „mein Vater“, „Alis Vater“, „Alis Mutter“, „Tareks Vater“, „Tarek Mutter“, die Schulleiterin. Was so für mein Empfinden weggeht von Realität hin zu so fabelhafteren Welten. Und da ist der Begriff der Erdung, glaube ich, den du gebracht hast, genau richtig. Wenn dann sozusagen so konkrete Orte, konkrete Momente, konkrete Zeitpunkte reinkommen, verliert man sich nicht in so einer, in so einer anderen Welt.
Ich weiß es nicht. Das ist noch nicht ausgegoren, was ich sagen wollte. Aber ich stimme dir zu.
Sophie Anggawi:
Na ja, ich fand tatsächlich es auch ganz spannend, dass es kaum Namen gibt, außer den Jugendlichen, die quasi untereinander ja auch ganz viel miteinander ausmachen. Inwiefern war das auch eine Wahl? Dadurch diese Teenager Perspektive einzunehmen? Ich meine, du bist jetzt ein erwachsener Mann. Sich da rein zu fühlen. Das hat auch gebracht, dass quasi die Erwachsenen anonymer geworden sind und nur die Jugendlichen stattfanden, richtig, namentlich.
Luca Kieser:
So ist das doch, wenn man jugendlich ist. Also das Komische ist, das hört dann nicht auf. Aber man hat immer so das Gefühl, es gibt so die Welt der Erwachsenen, in der sozusagen alle ganz, ganz souverän agieren. Nachdem man erwachsen geworden ist und alles verstanden hat, so glaube ich, habe ich damals in die Sphäre der eben mit beiden Beinen im Leben Stehenden geschaut.
Sophie Anggawi:
Ganz zu Beginn des der Freundschaft steht ja auch dieser Moment von Tarek, Ali und Vincent. Es beginnt eigentlich mit einer Rauferei, die Freundschaft, nicht das Buch. Aber die Freundschaft beginnt mit einer Rauferei und einer Kopfnuss. Das steht, glaube ich, auch sogar so auf dem Klappentext. Was ist der Moment? Oder warum möchte Vincent so gerne dann eine Freundschaft initiieren?
Luca Kieser:
Kopfnuss: Kurz noch dazu. Der Roman oder diese Freundschaft beginnt mit einer Kopfnuss. Die WM 2006, das Sommermärchen endete mit einer Kopfnuss. Das war wie Zinedine Zidane dann diesem italienischen Spieler eine Kopfnuss verpasst hat. Rauferei ist gut gesagt. Eigentlich verprügeln Tarek und Ali Vincent. Und Vincent denkt auch zuerst, für ihn hat das erst mal keinen Grund.
Also er denkt echt einige Zeit lang, er war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und neben einer strafrechtlichen Aufarbeitung des Ganzen irgendwann gibt es auch eine Gerichtsverhandlung. Da treffen die drei bei so einem sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich zusammen und werden da von so einem Sozialarbeiter quasi wird. Dann wird ein Raum designt, in dem alle so ein bisschen sich mal zeigen können und erzählen können, was eigentlich dazu geführt hat, dass sie Vincent verprügelt haben.
Und in diesem ganzen Setting erlebt dann Vincent so ein Durcheinander, weil er plötzlich versteht, warum die das gemacht haben. Er erlebt die erstmals ganz anders. Sie sind gar nicht so, wie er sie da auf der Straße kennengelernt oder erlebt hat. Und zweitens bemerkt er, dass er Dinge getan hat, die beleidigend waren, und er hatte es gar nicht auf dem Schirm.
Und das führt bei ihm – also er ist 14, er ist pubertierend – zu einem Durcheinander und ich glaube, dieses Durcheinander ist nicht schlau, aber es ist eine Öffnung. Und in dieser Öffnung wird es möglich, dass die dann eben auch mal eine zusammen rauchen und dann fängt das an, was du jetzt eben gefragt hast und was ich oft gefragt werde: Was ist das, was Vincent so fasziniert an den beiden? Warum fängt er an, mit denen abzuhängen und ganz viel zu machen? Bis dahin, dass er am Ende gern mehr aussehen würde wie Tarek und Ali? Also auch andere Haarfarbe.
Ich glaube, da geht es nicht um diese Körperverletzung. Ich glaube, da geht es auch nicht darum, dass Vincent jetzt so ein schlechtes Elternhaus hätte. Der hat sicherlich irgendwie so sehr unterkühlte Eltern, aber die sind trotzdem gute Eltern. Die kümmern sich um ihn und er kriegt auch vieles von denen mit, die kämpfen auch um ihn. Es gibt diese Szene, wo bevor, bevor Vincent diese Kopfnuss oder diese Prügel einsteckt, da ist er unterwegs mit seinem bis dahin so besten Freund Toby. Und dieser Toby, der fragt ihn dann so: „In wen bist du verliebt und gibt es doch zu! Du bist doch in wen verliebt!“
Und der Vincent sagt ganz ehrlich: „Ich bin in niemanden verliebt“. Der Toby glaubt ihm nicht, setzt ihn unter Druck. Und ich glaube, das ist der Schlüssel. Vincent ist noch nicht so weit, was seine Sexualität angeht. Was bestimmte Pubertätsschübe angeht. Und während seine bisherigen Freunde, Toby zum Beispiel, ihn da so ein bisschen pushen und unter Druck setzen, erlebt er bei Tarek und Ali, dass die den einfach sein lassen, so wie er gerade ist.
Tarek ist auch viel weiter, viel reifer, interessiert sich schon für ganz andere Sachen. Aber Vincent kann da noch ein bisschen mehr Kind sein und Nähe, Gewalt, aber auch Zärtlichkeiten mit denen teilen, ohne unter Druck gesetzt zu werden. Also wenn ich so diese vielen Momente in dem ganzen Roman anschaue, dann ist es, glaube ich, immer das, was oder sind es diese Momente, die ihn zu den beiden treiben?
Sophie Anggawi:
War es Ali, der sich aufsparen wollte?
Luca Kieser:
Ja, Ali ist. Ali ist heimlich ganz verknallt in Tareks große Schwester. Und genau. Also du hast recht, er will sich für sie aufsparen. Also Tamira ist nicht deutlich älter, aber für die sind das die nervigen Freunde von ihrem kleinen Bruder, der so ein Gangster sein will. Und sie ist Schulsprecherin und so.
Sophie Anggawi:
Und sie will auch ganz woanders hin im Leben.
Luca Kieser:
… Will wo ganz anders hin. Und sie ist also – weil wir vorhin so viel über Privilegien gesprochen haben – und da ist eben zum Beispiel Tamira eine wichtige Figur, weil die ab und zu mal so zum Beispiel Rassismen einfach auch beim Namen nennen kann oder eine gewisse Reflexion über bestimmte Dinge mitbringt und an zwei, drei Stellen da ihrem kleinen Bruder und seinen Freunden auch den Spiegel vorhalten kann.
Sophie Anggawi:
Warum kann sie das schon? Das liegt ja nicht nur an ihrem Alter, oder?
Luca Kieser:
Das liegt an ihrem Alter im Sinne von sie hat mehr Zeit gehabt, bestimmte Dinge zu reflektieren.
Sophie Anggawi:
Also ich habe mich gefragt, sie als Tochter hat ja auch eine andere Erwartung aufgebürdet bekommen, einfach weil das häufig so ist, dass Töchter andere Erwartungen tragen von Eltern als Söhne. Und dementsprechend nimmt sie sich ja nicht raus zum Beispiel Blödsinn zu machen. Sie nimmt sich nicht raus, in die Spielothek zu gehen, so wie das Tarek, Ali und Vincent machen, sondern sie ist Schulsprecherin. Sie bringt gute Noten nach Hause. Sie versucht wirklich, sich dahin zu arbeiten, dass sie rauskommt. Und zum Beispiel Ali hat ja auch den Traum, Diplomat zu werden. Aber alle Wege, die er einschlägt oder alle Wege, die sich ihm eröffnen, in seinem Blick jedenfalls, bringen ihn ganz woanders hin. Und zwar genau wieder zum Startpunkt.
Luca Kieser:
Also die Frage ist ja dann wird Tarek, wenn er so alt ist wie Tamira, ähnlich denken wie sie? Warum? Ich glaube schon. Der Roman endet sehr auf Messers Schneide. Es kann so oder so gehen, das ist immer die große Frage, auch wenn wir jetzt noch mal auf das Stichwort Privilegien kommen.
Ist es nicht auch ein großes, großes Privileg, eine gewisse Reflexion über bestimmte Dinge zu geraten? Und was ist dafür verantwortlich und ist man selbst dafür verantwortlich? Oder sind es glückliche Umstände, die dazu führen, dass man vielleicht in bestimmten Lebensphasen ein, zwei richtige Menschen kennenlernt und mit denen ein, zwei wichtige Gespräche führt? Wie hast du das jetzt eben gesagt?
Also sie hat als Mädchen bestimmte Erwartungshaltungen, als sie ist jetzt nicht die älteste Tochter, aber als ältere Tochter bestimmte andere Kämpfe führen müssen. Was ist dafür verantwortlich? Ich wehr mich da jetzt gegen so eine eindeutige Antwort, weil ich glaub das viel an diesen Sachen am Ende auch ein Glück ist.
Sophie Anggawi:
Also von Tamira oder was meinst du ist ein Glück.
Luca Kieser:
Ne, ich habe ich habe das eher wenn ich da an mich denk weil mich natürlich die Frage immer so beschäftigt warum habe ich eigentlich angefangen über diese Dinge nachzudenken? Und jetzt fragst du was hat Tamira dazu gebracht, über diese Dinge nachzudenken? Da kann ich eigentlich nur wieder das sagen, was ich vorhin gemeint habe: Also sie hat ganz andere Diskriminierungserfahrungen von klein auf gemacht als ich, der quasi keine gemacht hat.
Von daher liegt irgendwo auf der Hand, dass man, wenn man die macht, sich anfängt darüber Gedanken zu machen. Ob man dann aber den Weg geht, den Tamira geht, nämlich in dem sie weiß, sie muss sich doppelt so anstrengen als ihre Klassenkameradinnen, um eine mündlich gute Note zu bekommen. Was weiß ich in der Schule oder ob sie den Weg geht wie ihr kleiner Bruder, der sozusagen sagt „Ich werd Rapper, Mama“, sagt er einmal, „ich werde auch Erfolg haben. Aber anders“. Was dafür verantwortlich ist, kann ich schlecht sagen. Ich weiß nur quasi von mir selbst, dass ichs nicht meiner eigenen Leistung zurechnen möchte. Dass ich einfach auch Glück hatte, im richtigen Moment zum Beispiel den Ali kennenzulernen. Also jetzt nicht den Ali im Roman, sondern den Muhammet Ali, von dem ich vorhin erzählt habe, wenn ich den nicht kennengelernt hätte, und wenn der nicht mit mir über manche Sachen geredet hätte, dann würde ich heute nicht dieses Gespräch so mit dir führen.
Und das hat nichts mit meiner Leistung zu tun, sondern mit Glück. So habe ich Glück.
Sophie Anggawi:
Also verstehe ich dich richtig. Hast du es also auch als Privileg wahrgenommen, dass du diese Arbeit machen kannst und dieses Buch schreiben kannst und deine Rolle in der Gesellschaft durch das Schreiben auch privilegiert zu sein, reflektieren kannst?
Luca Kieser:
Absolut. Ich meine, das, worüber wir jetzt geredet haben, Was in dem Roman passiert, spiegelt sich quasi auf der Ebene des meines Autorendaseins oder so des Literaturbetriebs. Ich nehme mir da ein Thema. Ich schreibe darüber, ich verdiene damit Geld, wir treffen uns, ich bekomme den Raum hier irgendwie, was ich denke zu erzählen. Das ist ein riesen Privileg. Eine Antwort auf diese Problematik ist ja dann zu sagen „na ja, es geht ja um einen Vincent, es geht ja um einen weißen, der Sohn eines Oberarzt ist und einer Frau, die quasi heimlich verknallt ist, sozusagen in den künftigen Oberbürgermeister und für den Wahlkampf macht“ usw.
Das ist ja sozusagen die Perspektive und da musst du dir gar nicht um Aneignung Sorgen oder so machen. Ich glaub, diejenigen, die sich damit entschlagen wollen, vergessen so ein bisschen, dass sie trotzdem eine Verantwortung für die Figuren haben, die sie so entwickeln und sich trotzdem diese Fragen um Privilegien stellen müssen.
Sophie Anggawi:
Wer noch mehr hören möchte über den Roman „Pink Elefant“ von Luca Kieser am 25. Februar ist Luca in Bremen und wird daraus vorlesen und auch noch mal erzählen.
Luca Kieser:
Genau. Ich freue mich sehr darauf. Schönes Gespräch, vielen Dank Dir.
Sophie Anggawi:
Danke Dir!
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