Gunther Geltinger oder Das Schreiben und das Leben

Von Jutta Reichelt


Ich habe eine enge Freundin, die beneidenswert frei ist von jedem Hang zur Besserwisserei. Es gibt nur einen einzigen Punkt, bei dem sie mich mit gebetsmühlenhafter Zuverlässigkeit korrigiert – und zwar, wenn ich vom Leben und Schreiben rede, als handele es sich dabei um zwei klar voneinander getrennte Bereiche. Geduldig weist sie mich dann darauf hin, dass das Schreiben doch selbstverständlicher und zentraler Teil ihres (und auch meines) Lebens sei. Und obwohl ich ihr jedes Mal aus vollem Herzen zustimme, passiert es mir doch immer wieder, dass ich in diese falsche Alternative tappe. Vielleicht, weil die Idee vom Schreiben, das dem „Leben“ konkurrierend gegenübersteht, so weit verbreitet ist. Eng verwandt mit dieser Vorstellung vom „lebensfeindlichen“ Schreiben ist die einer eindeutigen, unumkehrbaren Reihenfolge: Erst wird gelebt, dann geschrieben.

Cover des Buches "Benzin" von Gunther Geltinger

Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit: Schreiben und Leben können sich auch in einer ständigen Wechselbeziehung aufeinander beziehen, wenn nicht nur das Schreiben vom Leben, sondern ebenso das Leben vom Schreiben immer wieder neu bestimmt wird. Gunther Geltinger erzählt in seinem 2019 erschienenen autofiktionalen Roman Benzin davon. Auch davon. Von dem Schriftsteller Vinz, bei dem sich Schreiben und Leben so eng ineinander verzahnt haben, dass es unmöglich scheint, das eine vom anderen zu trennen. Für ihn selbst, aber auch für uns Leser*innen. Wenn Vinz über sich und seinen Freund Alexander nachdenkt, wenn er sich an gemeinsame Erlebnisse erinnert oder sich fragt, ob ihre Beziehung noch eine Zukunft hat, dann bezieht er sich mit großer Selbstverständlichkeit nicht nur auf die realen Ereignisse, sondern ebenso auf die Spiegelungen, die sie im Schreiben angenommen haben: „In Vinz’ erstem Roman haben sie noch gemeinsam in die eigene Wohnung eingeladen oder haben fremde Wohnungen immer auch durch die Augen des Freundes betrachtet (…). Im zweiten Buch ist jeder auch eigene Wege gegangen …“ Diese „eigenen Wege“ erlaubten auch sexuelle Begegnungen mit anderen Männern – solange dadurch der besondere Status ihrer Partnerschaft, ihrer Liebesbeziehung nicht in Frage gestellt wird. Als sie die Reise nach Südafrika, von der dieser Roman erzählt, ein Jahr zuvor geplant hatten, war das noch der Fall. Aber jetzt, unmittelbar vor dem Start ihrer Reise, gibt es für Vinz einen anderen Mann, der mehr ist als nur ein Date. Und plötzlich ist vollkommen ungewiss, wie es weitergehen soll. Kann Vinz eine Trennung schreiben, ohne sie zu leben? Können sich seine Protagonisten im Roman anders verhalten als ihre realen Vorbilder? Oder würde er „mit jedem Wort an ihrer gemeinsamen Zukunft mitschreiben?“ Zumindest einen hauchdünnen Vorsprung – so können wir als Leser*innen vermuten – hat das Leben gegenüber dem Schreiben in den beiden früheren Romanen von Vinz gehabt, aber im Moment der existentiellen Krise, die sowohl Schreib- wie Lebenskrise ist, löst sich diese zeitliche Ordnung auf. („Tatsächlich nahm er manches erst als Veränderung wahr, nachdem er es geschrieben hatte, als müsste er die Worte durch ein Stück Wirklichkeit entschuldigen.“)


Zwei Romane hatte Vinz bereits geschrieben, als er nach Südafrika aufbricht, zwei Romane hatte auch sein Autor Gunther Geltinger geschrieben, als er nach Südafrika aufbrach. Bedeutet das …? Es gehört zum Reiz autofiktionaler Literatur, dass wir meist nicht wissen können, an welchen Punkten sich Text und Leben wirklich überschneiden. Seit Geschichten erzählt werden, wollen Autor*innen ihre Leser*innen Glauben machen, das Erzählte sei wirklich geschehen – und wundern sich dann manchmal dennoch, wenn Leser*innen jedes Wort für bare Münze nehmen und für real halten, was doch zumindest teilweise fiktiv ist. Solch einem allzu simplen „autobiografischen Fehlschluss“ hat Gunter Geltinger in Benzin klug vorgebaut: Während der fiktive Vinz seine Romane mit dem gleichen Personal und immer nah entlang des eigenen Lebens bestreitet, hat sein Erfinder mit Mensch Engel (2008) und Moor (2013) Romane vorgelegt, die eine jeweils ganz eigene Welt erschaffen.

Wer sich für den realen Schriftsteller Gunther Geltinger, für sein Schreiben und sein eigenes Nachdenken über (autofiktionales) Schreiben interessiert, dem sei neben den Romanen unbedingt auch sein auf 54books erschienener Text Ans Ende schreiben: Die Autofiktion und ihr Verhältnis zum Tod empfohlen. Neben vielen anderen klugen und anregenden Überlegungen finden sich dort zahlreiche Hinweise auf einen Erfahrungshintergrund, den Vinz, Gunther Geltinger (und natürlich viele andere Autor*innen) teilen und der vielleicht ebenfalls einer weitverbreiteten Vorstellung vom Schreiben widerspricht: die Erfahrung einer gravierenden, einer existentiellen Sprachlosigkeit.

Es sind längst nicht immer die besonders „Sprachmächtigen“, die „Wortgewaltigen“, die Autor*innen werden. Sicherlich gibt es auch die. Aber oft ist genau das Gegenteil der Fall und es ist die Erfahrung des Stammelns und Stotterns, des Verstummens und Verschweigens, die das Schreiben zu einer Notwendigkeit werden lässt. Über die Autofiktion sagt Gunther Geltinger in diesem Text, sie nähre sich, „aus der Unmöglichkeit, ein Leben zu erzählen oder es überhaupt erst zu führen, sie entsteht aus dem Versagen des Erinnerns, aus einem Mangel an Lebenssinn oder an Liebe, aus der Sprachlosigkeit.“


Porträt von Jutta Reichelt
© Nicolai Wolff

Jutta Reichelt

wurde 1967 geboren und lebt als Schriftstellerin und Geschichtenanstifterin in Bremen. Sie schreibt Romane, Erzählungen, literarische Essays und bloggt Über das Schreiben von Geschichten. Für unterschiedliche Institutionen entwickelt und leitet sie Schreibwerkstätten und -projekte, darunter auch zwei Schulhausromane, die unter ihrer Leitung für das Literaturhaus Bremen entstanden sind. Jutta Reichelt wurde für ihre schriftstellerische Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen für die Fertigstellung ihres aktuellen Schreibprojektes mit dem Arbeitstitel Lebensgeschichtslosikeit – eine autobiografische Annäherung.

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