Matthias Nawrats Schreiben ist vielfältig: fünf Romane, einen Gedichtband, zwei Essay-Bänder, Tagebücher und eine ganze Reihe an Beiträgen als Journalist hat der in Berlin lebende Autor veröffentlicht. Mal ist es Nawrat selbst, der in seinen Büchern von Reisen und Begegnungen erzählt, mal sind es Romanfiguren. Dabei sind es vor allem die Leben und die Erfahrungen der anderen, denen sich seine Erzähler widmen. Mit Jonas Dahm spricht Matthias Nawrat über Perspektiven und darüber, was wir eigentlich von anderen wissen können.
Zum Nachlesen
Jonas:
Herzlich willkommen zum Literaturhaus Podcast Bremen. Matthias Nawrat hat fünf Romane, einen Gedichtband, zwei Essay-Bänder und Tagebücher und eine ganze Reihe an Beiträgen als Journalist und Autor veröffentlicht. Die Reihe an Preisen und Förderungen, die er erhalten hat, ist ebenfalls lang, unter anderem der Literaturpreis der Europäischen Union und auch den Bremer Literaturpreis. Unser Monatsthema im Literaturhaus-Podcast Bremen sind die Perspektiven und dafür möchte ich mich auf die beiden aktuellsten Bücher von Matthias Nawrat konzentrieren. “Der traurige Gast” von 2019, ein Roman, der einem anonymen Erzähler entlang seiner Begegnung in Berlin folgt und “Über allem ein weiter Himmel. Nachrichten aus Europa”, ein Essay und Erzählband, der dieses Jahr erschienen ist. Matthias Nawrat hat in Biel Literatur studiert und heute wohnt er in Berlin, wo ich ihn auch erreiche. Lieber Matthias, vielen Dank, dass du da bist.
Matthias:
Ja, vielen Dank, dass ich mit euch sprechen darf. Ich freue mich sehr aufs Gespräch.
Jonas:
In deinem aktuellen Band “Über allem ein weiter Himmel”, beschreibst du Episoden von deinen Reisen. Du folgst Einladungen, du triffst Menschen - in Russland, in Polen, in Israel - und da bist du meist auf Lesereise und als Autor eingeladen. Du warst jetzt gerade in New York. Was hast du in New York gemacht und schreibst du dann immer schon auch mit fürs nächste Buch?
Matthias:
Ja, ich habe ungefähr im Jahr 2014 angefangen, wirklich literarisches Tagebuch zu führen. Und es zeigt sich immer, dass ich, wenn ich auf Reisen bin, eigentlich immer noch mal mehr schreibe, als wenn ich in Berlin bin. Einfach, weil auf Reisen wahrscheinlich so viel Neues passiert und so viele Dinge an mir vorbeirauschen würden, wenn ich nicht genau aufpasse, wenn ich nicht genau hinschaue, sodass das wirklich ein gutes Instrument für mich geworden ist, all das irgendwie festzuhalten. Und wie du schon gesagt hast, dieser Band “Über allem ein weiter Himmel”, der versammelt um die 15 Reisen der letzten zehn Jahre. Und also das sind so Tagebucheinträge, essayistische, ein bisschen erzählerische Texte. Und ausgehend davon habe ich dann tatsächlich mich gefragt, ob ich nicht auch ein ähnliches Buch über Reisen nach Amerika oder in die USA schreiben könnte, weil: “Über allem ein weiter Himmel”, das deckt vor allen Dingen den Raum östliches Europa, südöstliches Europa, Russland, Israel ab. Und zufällig bin ich jetzt in diesem Sommer eben eingeladen gewesen in Vermont, in einem Städtchen, das Middlebury heißt. Das hat ein College und dieses College ist sehr berühmt für seine Sprachschulen im Sommer, für Summer Schools und unter anderem auch für die deutsche Sprachschule. Da war ich eingeladen, für eine Woche ‘Writer in Residence’ zu sein. Das heißt, in den Seminaren mit drin zu sein, eine Lesung zu machen und auf dem Campus zu wohnen, mit den Studierenden. Und deswegen haben wir diese Reise, die eigentlich eine Woche gedauert hätte, so ein bisschen auch ausgeweitet auf einen Monat. So ein bisschen als Urlaubsreise, aber tatsächlich habe ich wirklich jeden Tag notiert. Das ist für mich erstens so eine Art Ritual, zweitens ist es für mich eine Art, das, was ich sehe, mit Sinnzusammenhang zu füllen, also für mich in einen nachvollziehbaren Kontext zu stellen, es irgendwie zu erforschen, es irgendwie zu erkunden. Und eine der Stationen war eben auch New York City. Also, wir sind nach New York City geflogen, waren da ein paar Tage. Dann kam diese Reise nach Vermont, weiter nach Maine, zu dem ich auch schon einen Bezug habe über einen Roman, den ich geschrieben habe, “Reise nach Maine” hieß der. Und dann sind wir wieder zurück nach New York und haben dann nochmal ein paar Tage in New York verbracht, eine Stadt, in der ich schon oft war und in der ich einfach jedes Mal wieder wie so ein Kind staunend durch die Straßen laufe. Es ist so ein unerschöpfliches, irgendwie heiliges, ja so ein heiliger Knotenpunkt an menschlichem Leben, an Geschichte, auch der Frage, was ist Natur, was ist Zivilisation und so weiter. Also es war wieder einmal sehr faszinierend. Und ich hab tatsächlich ein solches Buch irgendwann zu schreiben. Also ich fange schon an, dafür zu sammeln.
Jonas:
Wenn du da sammelst, notierst du durchgängig mit oder setzt du dich dann abends hin und machst du dann eine Art Gedächtnisprotokoll?
Matthias:
Also normalerweise, man kommt ja nicht jeden Tag dazu, wenn man auf Reisen ist. Man muss sich dann manchmal ja darum kümmern, wie kommt man weiter, wie findet man eine Unterkunft. Und es gibt dann aber immer wieder Tage der Ruhe, würde ich mal sagen, oder ich versuche mir diese Ruhe dann auch zu schaffen oder diesen Raum. Und es ist dann meistens morgens. Ich notiere dann, ich stehe normalerweise relativ früh auf und dann beschäftige ich mich damit zwei bis drei Stunden ungefähr. In diesem Fall, also in den USA, war das so, dass wir häufig die Möglichkeit hatten in Bibliotheken zu gehen. Also einmal auf diesem Campus natürlich, die hatten wirklich eine sehr, sehr schöne Bibliothek. Und dann in vielen Orten in den USA gibt es öffentliche Bibliotheken, die häufig das schönste Gebäude in der Stadt sind und eigentlich auch das einzige, oder eins der wenigen, die öffentlich oder von der Bürgerschaft finanziert sind. Das war sehr schön. Und was dann so im Rest des Tages passiert, das sind dann tatsächlich eher so kleine Notate. Also so Merkhilfen für den nächsten Tag, wenn ich dann da dran gehe, das quasi in seiner Tiefe auszuloten. Aber ich mache mir dann so ins Handy manchmal Notizen oder ins Notizbuch.
Jonas:
Macht das was mit deinem Erleben vor Ort? Also, wenn du weißt, du schreibst jetzt wahrscheinlich schon so ein bisschen innerlich mit, steht das im Weg oder hilft dir das beim intensiveren sich auf den Ort einlassen?
Matthias:
Also ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir wirklich sehr hilft. Mein Problem war immer auf Reisen - oder, was ich generell, glaube ich, problematisch an Reise empfinde ist, dass es sehr schwer ist, unter die Oberflächen zu kommen. Das heißt man fährt ja, man geht ja los auf eine Reise und hat schon ein Vorwissen, ohne dass man es vielleicht weiß oder merkt. Im Falle der USA ist das natürlich ein Vorwissen, das sehr geprägt ist durch Popkultur, also durch Filme, durch Literatur, durch Popmusik und so weiter. Natürlich auch durch die Geschichtsschreibung des Landes, aus dem man kommt. Aber das kann man auf jedes andere Land auch übertragen oder auf jede andere Region, in der man selber nicht lebt. Und da unter diese Oberflächen an Klischees und Stereotypen zu kommen, die einfach im Gehirn herumgeistern und durch deren Brille man praktisch das alles sieht, dazu braucht es Zeit. Also man muss lange an einem Ort sein, es muss redundant werden, sodass man plötzlich beginnt, hinter diese offensichtlichen Dinge zu blicken. Es müssen Zufallsdinge geschehen und man muss irgendwie seinen Blick schulen. Und dieses Schreiben, das schult tatsächlich den Blick, weil man ist ja gezwungen, wenn man etwas aufschreiben muss, sich genau darüber Gedanken zu machen und wirklich eine Sprache dafür zu finden. Und man lernt dadurch aber dann auch unterwegs zu sein und schon genauer zu schauen. Also schon so zu schauen, dass man es am nächsten Tag wird aufschreiben können in all seiner Komplexität. Und das hat mich zu einem anderen Reisenden, glaube ich, gemacht, als ich es vorher war.
Jonas:
In “Über allem ein weiter Himmel” erzählst du von Begegnungen mit Menschen und ihren persönlichen Geschichten und in diesem Partikulären findest du die Nachrichten von Europa, erzählst damit aber auch immer die aktuellen Geschichten und die Geschichte Europas, unter anderem Ukraine, Russland taucht auf. Begegnet dir Europa überall oder warst du auch auf der Suche nach Europa für dieses Buch?
Matthias:
Ja, ich denke schon, man muss ein Stück weit natürlich auch auf der Suche sein, weil das, was man sieht, ist ja ein Stück weit auch das, was man vorher fragt oder was man sich selber fragt. Das heißt, natürlich bin ich einfach wahrscheinlich eine Person, die sich sehr damit beschäftigt. Ich weiß das auch, weil es mit meiner eigenen Biografie zu tun hat. Also diese Migrationserfahrung aus dem damals noch kommunistischen Polen, damit auch die Erfahrung eigentlich im Prinzip mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und auch die Spuren dieser Geschichte, die auch in meiner Familiengeschichte sich eingedrückt haben, zum Teil auf sehr dramatische Weise. Alles das hat mich natürlich geprägt und alles das bringe ich natürlich an Fragen mit an die Gegenwart. Und die Gegenwart ist ja niemals einfach eine Oberfläche auf dem Zeitstrahl, also niemals etwas Horizontales, sondern sie ist ja immer schon gemacht durch die Vergangenheit. Das heißt, ich blicke immer schon auf die Gegenwart mit dieser Linse oder so, könnte man sagen, und daher sind es auch meine Fragen, wenn ich auf Reisen gehe, also ich gehe dann schon immer auch als Schriftsteller auf Reisen. Ich bin eigentlich sehr selten so ein normaler Urlauber, ich fühle mich dann immer so ein bisschen leer, oder halb nur, wenn ich nicht auch ein intellektuelles oder auch kulturelles Interessen an diesen Ländern mit befriedigen kann. Und deswegen, glaube ich, habe ich natürlich diese Fragen schon mitgebracht und habe schon danach gesucht. Andererseits war ich ja auch häufig in Kontexten unterwegs, die schon kulturpolitisch oder politisch waren. Über Einladungen zu Festivals, zu irgendwelchen Workshops, die ich dort gemacht habe, zu Lesungen, kommt man natürlich auch mit Leuten zusammen, die sich auch genauso wie ich hier in Deutschland in diesen Ländern mit diesen Fragen beschäftigen. Das heißt, wir kamen auch schon automatisch auf diese Fragen. Aber ich bin auch dann durch diese Städte oder durch diese Regionen gegangen, mit offenen Augen und habe geschaut, ja, wie leben die Menschen, was denken sie. Das heißt, es ist wahrscheinlich ein bisschen beides: in welchem Kontext reist man, aber wer ist man auch und was bringt man für Fragen mit.
Jonas:
In deinen früheren Büchern, zum Beispiel “Die vielen Tode unseres Opa Jurek”, da kommt die Geschichte mehr so als etwas Geschehenes daher, also der Nazismus, die Sowjetunion und in “Über allem ein weiterer Himmel”, also deinem aktuellen Buch, da geht es mehr um heute - und die Geschichte, die passiert mehr im Jetzt. Kommt uns die Geschichte, von der hat ja Fukuyama Anfang der 90er Jahre geschrieben, sie sei vorbei, aber kommt sie uns heute wieder näher?
Matthias:
Ja, ich glaube, sie kommt uns schon näher. Also vor allen Dingen uns weißen Europäern. Und insbesondere denen aus dem sogenannten Westen Europas. Weil, glaube ich, dieser Zustand, den er beschreibt, das Ende der Geschichte, das vermeintliche Ende der Geschichte, das war vielleicht auch so ein Gefühlszustand in den 90ern all derjenigen, für die dann tatsächlich erst mal paradiesische Zeiten angefangen haben. Aber, für mich oder für all diese Menschen, die irgendwie Opfer wurden, beispielsweise der Anschläge der 90er Jahre, also der fremdenfeindlichen Anschläge, oder die irgendeine Art von Migrationsgeschichte haben, oder die zum Beispiel auch mit der osteuropäischen Geschichte irgendwie verbunden sind, für die gab es, glaube ich, eben diese Kontinuität der Geschichte. Ich glaube, für einen Schriftsteller sollte es sowieso eigentlich immer so sein, dass die Gegenwart eigentlich bereits als historisch betrachtet werden muss. Also, man darf sich niemals in dieser Illusion verlieren, wir sind jetzt die schlauste, die klügste Zeit, sondern es geht irgendwie doch immer weiter. Mein Aha-Erlebnis war tatsächlich die Maidan-Revolution, die Annexion der Krim, da habe ich schon gemerkt, das kurze Durchatmen ist vorbei, es geht weiter in der Geschichte. Und, da habe ich, wie ja schon eingangs gesagt, angefangen ein Tagebuch zu führen, weil ich das Gefühl hatte, ich muss eigentlich auch die Gegenwart mit aufzeichnen. Also auch ihr Durchdrungensein von Geschichte, von dem, was du gerade als “geschehene Geschichte” bezeichnet hast, aber auch ihre Historizität, also das, was heute passiert - durch diese Bilder des Vergehens der Zeit und der Geschichte. Das Interessante an dem Buch, also auch das für mich interessante an dem Buch “Über allem ein weiter Himmel” war, dass ich im Jahr 2023 angefangen habe, die Texte zu versammeln, die ich seit 2013 geschrieben habe. Das heißt ich bin mir selber begegnet, aus einer früheren Zeit, also einem Ich von vor zehn Jahren und einem Denken von vor zehn Jahren. Und das war schon sehr interessant zu sehen: Okay, auch innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich in Europa natürlich sehr viel bewegt. Meine Reflexionsarbeit hat sich verändert, vielleicht eben auch die Diskurse Europas, und das fand ich spannend, weil, wie du sagst, alle diese Texte handeln eigentlich von Gegenwart, aber in der Zusammenstellung zeichnen sie ja schon zehn Jahre ihre und Veränderungen nach. Das finde ich die große Möglichkeit dieser Form, dieser Tagebuchform. Weil Tagebücher werden ja selten in dem Moment gelesen, in dem sie geschrieben werden, sondern sie sind eben auch immer ein Zeitzeugnis.
Jonas:
Was dein aktuelles Buch sehr gut schafft, ist, die Unsicherheiten innerer Prozesse abzubilden. Dass du dich immer wieder fragst, und der Erzähler sich immer wieder fragt, was denke ich da jetzt eigentlich, mit was für eine Perspektive komme ich in den Raum. Bin ich jetzt hier der arrogante Westeuropäer, schreibst du an einer Stelle. Damit fragst du ja auch: Was kann man eigentlich von den Erfahrungen der Anderen erzählen? Bist du da zu einem Schluss gekommen und wie viel passt davon in ein Buch?
Matthias:
Also ja, ich meine, das ist eine Frage, mit der ich mich schon lange beschäftige. Also die Frage nach der Perspektive, weil die Perspektive natürlich total das Denken prägt. Das ist natürlich nicht meine Erfindung, sondern das ist schon eine ältere Erfindung. Im Grunde bei Marx kann man das schon nachlesen, wenn er darüber schreibt, dass die bürgerliche Klasse ein anderes Bewusstsein hat als die proletarische Klasse. Und davon ausgehend kam zum Beispiel die Kritik am bürgerlichen Roman, der ja immer so getan hat, als würde er jetzt die Welt beschreiben, wie sie wirklich ist. Die Kritik ist dahingehend: Du beschreibst aus deiner eigenen Perspektive, deine Perspektive ist aber privilegiert - du siehst die eigentlichen Probleme der Menschen nicht. Das wurde dann ja im 20. Jahrhundert auch durch die postkoloniale Theorie übertragen auf verschiedene andere Fragen, auch durch die Gender-Theorie. Das heißt, heutzutage müsste das eigentlich jedem bewusst sein und ich glaube, es ist die einzige Möglichkeit. Ich glaube dennoch daran, dass die Literatur sich mit den Erfahrungen der anderen beschäftigen muss. Also eine Literatur, die sich nur mit der eigenen Erfahrung beschäftigt, ist irgendwie, meiner Meinung nach, nicht viel wert. Weil in der Utopie - die Literatur in ihrer Utopie - quasi versuchen kann, auch das Universelle der menschlichen Erfahrungen zumindest irgendwie aufscheinen zu lassen. Das heißt, wir sind eigentlich in so einem Paradoxon. Ich habe es mal an einer Stelle Unschärfe genannt, ein Begriff aus der Quantenphysik. Je genauer wir das Universelle betrachten - ‘alle Menschen sind gleich’, alle werden mit den gleichen Sinnen geboren mit den gleichen Wünschen mit den gleichen Hoffnungen - umso genauer wir das anschauen, desto weniger oder desto verschwommener sehen wir die Ungerechtigkeiten auf der Welt, die durch konkrete Herkunft erzeugt werden. Es macht ja schon einen Unterschied, in welche Klasse wird man geboren, in welches Geschlecht, in welches Land und so weiter. Und je genauer wir aber diese Herkunft anschauen, also das Partikulare oder das individuelle, desto mehr verlieren wir dann das utopische Potenzial aus dem Blick, diesen Wunsch, dass doch eigentlich alle gleich sein müssten. In diesem Spannungsfeld bewegt sich Literatur für mich immer und eben auch das Mitschreiben des Erlebten, weil ich wirklich daran glaube, dass man, trotzdem dass man ein ‘Ich’ ist, eine Art Tür aufmachen kann zu den Erfahrungen der anderen. Das geht aber, glaube ich, nur, indem man ständig dieses ‘Ich’ hinterfragt, indem man ständig darauf verweist, dass das eine bestimmte Perspektive ist und das, was man jetzt wie so als Echo der Erfahrungen der anderen bekommt, eben mit Vorsicht zu genießen ist - oder vielleicht mit der Frage, was davon ist eben doch durch die Perspektive eingefärbt.
Jonas:
In deinen beiden Büchern “Der traurige Gast” und “Über allem ein weiter Himmel. Nachrichten aus Europa.” nutzt du zwei verschiedene Erzähltechniken. In “Der traurige Gast” gibt es einen anonymen Erzähler: Der erinnert schon an dich, es ist aber ein Roman. In “Über allem ein weiter Himmel” bist du selber mit im Buch. Das sind ja wie so zwei verschiedene Versuche, sich den Geschichten dieser Menschen, die du da erzählst, zu nähern. Ich habe mich gefragt, was sind für dich die Unterschiede und was sind die beiden Vorteile, die diese beiden Perspektiven und Erzählweisen mit sich bringen?
Matthias:
Zunächst einmal finde ich sowieso, das Feld der Erzählperspektive ist ein sehr weites, und ich habe das in allen Büchern in verschiedenen Konstellationen durchprobiert. Das heißt, die Übergänge sind häufig auch schleichend und so ein bisschen diffus. Also das heißt, was ist der fiktionale Raum, was ist ein fiktionaler Erzähler und was ist etwas, das die Literatur heute stark beschäftigt, etwa im Zusammenhang des auto-fiktionalen Erzählens oder so. Und ich hatte das Gefühl, “Der traurige Gast” ist ein Roman, der einen fiktionalen Raum aufmacht, aber es ist ein Raum, der sehr nah am realistischen Erleben ist. Und es wurde für mich dadurch zum Roman, weil ich irgendwann einen Ton gefunden hatte, der das ganze enthebt, von meinem wirklichen Leben, der quasi und so eine Art Distanz schafft, in so einer leichten Entrückung im Ton. Beim Tagebuch schreiben ist es natürlich von Anfang an schon ganz anders, da das Tagebuch ja per se eine Form oder der Versuch ist, eine Form für die Wirklichkeit zu finden, mit einem Ich, das tatsächlich zumindest versucht, identisch zu sein mit dem Ich in der realen Welt, also dem Schriftsteller-Ich. Dennoch finde ich es interessant, dass zum Beispiel die Tagebuchtexte... Also der Versuch, etwas Wirkliches aufzuschreiben, misslingt ja auch immer. Man kann eigentlich Wirklichkeit nicht aufschreiben. Das heißt, in dem Moment, wo man etwas aufschreibt, rutscht es sowieso schon in so einen sprachlichen Raum und auch in so einen zum Teil auch fiktionalen Raum, weil man, wenn man etwas notiert, zum Beispiel zwangsweise so eine Art Dramaturgie mit einbaut oder bestimmte Details weglässt, bestimmte andere Details hervorhebt. Durch all diese Techniken ist es ja dann schon nicht mehr die Wirklichkeit. Deswegen würde ich jetzt sagen, diese Bücher sind einerseits nah aneinander, weil sie aus einem ähnlichen Impuls entstanden sind. Aber der Roman, also “Der traurige Gast”, da habe ich dann festgestellt, ich kann es erst schreiben als Roman, als ich einen Weg gefunden habe, in diese Biografien der Menschen, die da vorkommen, wirklich in Erfindungen hineinzutreten. Diese Biografien sind größtenteils erfunden. Ich benutze nur das Verfahren eines tagebuchähnlichen Schreibens, um das irgendwie so glaubwürdig an die Wirklichkeit zu binden. Während umgekehrt, in “Über allem ein weiter Himmel”: Alles, was ich da notiert habe, ist nicht erfunden. Das wurde mir wirklich erzählt, das habe ich wirklich gesehen. Das heißt, das ist der Unterschied, aber ich frage mich immer - also letztendlich ist das ja sowieso eine der großen Fragen in der Literatur - können wir wirklich Wirklichkeit abbilden oder nicht? Da bin ich ja auch nicht der Erste, der sich das fragt. Und wie können wir das machen? Auch die Fiktion ist ja im Grunde genommen der Versuch, irgendwie Wirklichkeit abzubilden, indem man diese Wirklichkeit transformiert in etwas Anderes, das quasi erinnert an die Wirklichkeit. Und das Tagebuchschreiben ist näher an der Wirklichkeit, hat aber eben auch diese fiktionalen Auswüchse.
Jonas:
Ist das dann am Ende immer so ein bisschen auch eine enttäuschende Erfahrung, ein Buch herauszubringen, weil man denkt, es bleibt ja dann zwangsweise fragmentarisch?
Matthias:
Also ich kenne schon dieses Gefühl, ich bin mit einem Buch fertig und ich dachte lange, ich bilde die ganze Welt ab und dann bin ich fertig und habe das Gefühl, ah ne, es ist ja wieder nur ein Buch geworden. Aber gleichzeitig habe ich schon das Gefühl, dass man in jedem Buch irgendwie so eine Tür öffnet und wie so ein Echo der Welt oder so, oder des Lebens, einfängt. Insofern ist es für mich immer, also auch als Leser, niemals enttäuschend, einen Roman zum Beispiel zu lesen oder auch Tagebücher - ich lese auch sehr viele Tagebücher - weil ich weiß, es gibt diese Einschränkung. Aber vielleicht wäre es ohne die Einschränkung gar nicht möglich. Also wenn wir uns das Gegenteil vorstellen, wir bilden die Wirklichkeit ab, und die Wirklichkeit hat ja überhaupt keine Form. Die rauscht ja durch uns durch, also ohne formale Einschränkungen, ohne zum Beispiel zu sagen, ich nehme jetzt diesen Ausschnitt, und ich lasse diesen Ausschnitt durch die Augen dieser Person, wahrnehmen, dann würden wir gar nichts mehr wahrnehmen. Es wäre das totale Chaos. Deswegen glaube ich, die Einschränkung ist einerseits so ein bisschen enttäuschend, aber andererseits ist sie die Bedingung der Möglichkeit, dass wir überhaupt etwas erzählen, in Sprache weitergeben können.
Jonas:
Du hast gerade gesagt “da rauscht die Wirklichkeit durch einen durch”. Das betrifft für mich eine Differenz, die ich wahrgenommen habe in der Lektüre deiner beiden Bücher, “Der traurige Gast” und “Über allem ein weiter Himmel”. Dass nämlich der anonyme Erzähler in “Der traurige Gast” durchaus eine leerere Position einnimmt, als du, der die Tagebücher verfasst. Er sagt wenig zu dem, was die Leute ihm erzählen, er widerspricht nicht, auch wenn sie ihn teilweise nerven, aufregen. Und ich habe mich gefragt, hilft es selber ein bisschen leer zu sein, um diese Geschichten aufzunehmen, aber wann ist man vielleicht auch zu leer? Wann rauscht es nur noch durch und man kann nichts davon aufschreiben, wahrnehmen und weitergeben?
Matthias:
Ja, das ist eine gute Frage. Ich stelle schon fest, dass wenn ich einfach nur mitnotiere, was sehe ich so, also wenn ich wirklich nur Fakten mitnotiere, dann sind es keine interessanten Texte. Also ich finde schon, dass auch ein Tagebuch wird dadurch interessant, dass man ein Gefühl für die Person bekommt, die das schreibt. Und das heißt für ihr Leben, für ihre Art und Weise zu denken, für ihre Art und Weise, auf bestimmte Dinge zu blicken und so weiter. Im Roman gibt es ja wirklich sehr viele verschiedene Formen von Erzählperspektiven. In meinem Fall, also im Falle des traurigen Gastes, war das eine Art Experiment. Ich habe festgestellt, er muss, also dieser Erzähler in diesem spezifischen Buch, muss ein bisschen eine Lehrstelle sein, weil im Grunde genommen das Thema des Romans für mich irgendwie so etwas wie Empathie ist. Und die Geschichten, die ihm erzählt werden, die dann die Geschichten sind, die man als Leser liest, die sind zum Teil wirklich sehr hart. Und diese Figuren, die er da trifft, sind dann, so als Gegenpol, zum Teil sehr distanzlos. Die drängen sich ihm ja geradezu auf. Irgendwie fand ich das ein interessantes Feld: Ein Mann ohne Eigenschaften, der wie zum Gefäß wird für die Erzählungen anderer. Das war für mich eine Art Metapher für Empathie, auch angesichts der dunkelsten Dinge, die er sich erzählen lässt, ohne sich dagegen wehren zu können.
Jonas:
Diese dunkelsten Dinge, die geschehen und werden ihm ja in Berlin erzählt. Du bist selbst nach deinem Studium der Literatur in Biel nach Berlin gezogen. Bist du auch für diese Dunkelheit und diese Geschichten hierhergekommen?
Matthias:
Berlin ist natürlich eine Stadt, die voll ist von so historischen Schichtungen. Also beispielsweise sieht man das in der Architektur, aber eben auch in den Biografien der Leute. Was mich auch sehr interessiert ist die Tatsache, dass Berlin eigentlich eine extrem östliche Stadt ist. Damit meine ich nicht lediglich, dass sie im Osten von Deutschland liegt, das natürlich auch, aber sie ist eben auch weniger von Polen entfernt, sie hat diese östliche Geschichte, auch was Migrationsgeschichte anbelangt. Also seit mehreren hundert Jahren immer wieder russische Migration, polnische Migration, rumänische. Jetzt in den letzten paar Jahrzehnten türkische Migration, arabische Migration. Alles das hat mich fasziniert an der Stadt und eben auch die deutsch-deutsche Geschichte hat mich fasziniert, der man ja hier auch ständig begegnet, sowohl in Gesprächen mit Menschen als auch im Stadtbild. Und irgendwie war das für mich so aufgeladen mit diesen Geschichten und mit dieser Geschichte und das hat mich schon sehr angezogen. Und die Nähe zu Polen, das mich auch nie richtig loslässt.
Jonas:
Du hattest eingangs erwähnt, du trägst dich so ein bisschen mit der Idee eines Erzählbandes über die USA. Kannst du da noch was zu sagen und könnten wir schon ein bisschen wissen, wann der vielleicht erscheint? Gibt es da schon Ideen?
Matthias:
Also das ist wirklich noch sehr, sehr unbestimmt, weil ich mir vorstellen könnte, dass auch hierbei dann eine gewisse Zeittiefe wichtig werden wird. Das heißt, es muss eigentlich ein Buch sein, das vielleicht erst über die nächsten paar Jahre wächst. Ich habe jetzt, als ich da war, viele Notizen gemacht, viele Dinge aufgeschrieben und das werde ich jetzt auf jeden Fall erstmal liegen lassen und dann in den nächsten paar Jahren einfach versuchen, noch ein paar weitere Reisen in die USA zu machen, wo ja auch sehr viel gerade im Umbruch ist. Das ist ein Imperium und wir sind ja im Grunde genommen letztendlich die Provinz dieses Imperiums, zumindest seit dem 20. Jahrhundert. Immer schon mit dieser Geschichte natürlich verbunden, mit der abgründigen europäischen Geschichte der Sklaverei und der Kolonialisierung und so weiter. Das fasziniert mich einerseits deswegen, aber andererseits auch in der jüngsten Geschichte, was da gerade passiert. Aber ich denke, damit das ein interessantes Buch werden kann, braucht es eben diese Jahre, die vergehen, und die Veränderungen, die ich vielleicht dann einfangen kann. Und deswegen würde ich damit erst in ein paar, also sagen wir vielleicht sogar erst in acht Jahren oder so rechnen. Momentan arbeite ich an einem Roman, das wird wahrscheinlich das nächste Buch sein, das herauskommt. Das kommt vermutlich 2026 raus. Und ich arbeite weiterhin auch an Gedichten. Das heißt, auch da könnte man vielleicht demnächst noch ein Gedichtband erwarten. Also ich bin irgendwie so mitten in der Arbeit, auf allen Feldern, da ackere ich gerade die Erde. Und ja, ich bin mal gespannt, wie sich das entwickelt. Also, ob mir das auch gelingt überhaupt, mit diesem Amerika-Buch, weil es ist schon etwas anderes zu wissen, dass man für ein Buch arbeitet, im Vergleich zu: Man führt einfach Tagebuch und erst im Nachhinein entscheidet man sich dazu, dass man daraus ein Buch macht. Ich bin gespannt, was das dann mit den Texten auch macht.
Jonas:
Lieber Matthias Nawrat, wir sind am Ende der Zeit angelangt. Vielen, vielen Dank, dass du heute da warst und vielen Dank für dieses sehr, sehr schöne Gespräch.
Matthias:
Ja, vielen Dank auch, dass ich hier sein durfte.
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