#96 Ofer Waldman: „Ich vermisse das Orchesterleben unaufhörlich“ [34:54]

29. August 2024

Ofer Waldman
© Bernd Brundert

Ofer Waldman war Profi-Orchester-Musiker. Heute arbeitet er als Autor. Sein Buch Singularkollektiv versammelt Erzählungen aus dem Orchestergraben. So scharfsinnig wie liebevoll seziert er darin das Sozialgefüge des Orchesters und die in ihm arbeitenden Menschen. Mit Anna Maria Stock spricht er darüber, wieso er als Hornist besonders viel Zeit hatte, um das Geschehen im Orchester zu beobachten und warum sich ausgerechnet am Orchester so schön vom menschlichen Zusammenleben erzählen lässt. Außerdem verrät er, was für ihn das Musikmachen vom Schreiben unterscheidet – und was das mit Zeit zu tun hat.

Zum Nachlesen

Anna: 

Wer von euch ab und zu oder vielleicht auch öfters mal in Konzerte von klassischen Orchestern geht, kennt sie: Diese scheinbar mühelose Eleganz, mit der die Profimusiker:innen ihre Stücke spielen. Was dabei so leicht aussieht, ist aber harte Arbeit. Ein Orchester mag vielleicht aus dem Publikum heraus wie eine perfekt harmonische Einheit wirken, aber in der Realität ist es das weit weniger. Weil ein Orchester eben auch nur aus Menschen besteht. Menschen, die Ängste haben, Unsicherheiten, Eitelkeiten. Ofer Waldman ist Autor und ehemaliger Orchestermusiker. Er kennt den Orchestergraben also ziemlich gut. So gut, dass er aus seinen Beobachtungen von dort ein Buch gemacht hat. „Singularkollektiv“ heißt es. Es ist ein unterhaltsamer wie tiefgründiger Erzählband über das Innenleben von Orchestern und den Menschen darin. Darüber wollen wir jetzt sprechen. Hallo Ofer Waldman, willkommen! 

Ofer: 

Hallo Anna Maria Stock, vielen Dank für die Einladung, hier zu sein. 

Anna: 

Ofer, du warst, wenn ich richtig informiert bin, bis 2014 selbst Profi-Orchester-Musiker, richtig? 

Ofer: 

Richtig, also bis dahin habe ich in der… das war meine letzte Station sozusagen an der Israelischen Staatsoper in Tel Aviv. 

Anna: 

Und du bist Hornist gewesen in verschiedenen Orchestern. Und heute arbeitest du aber hauptsächlich als Rundfunkautor. Hast du das Orchesterleben vermisst und musstest deshalb ein Buch drüber schreiben? 

Ofer: 

Ich vermisse das Orchesterleben unaufhörlich. Jedes Mal, wenn ich ins Konzert gehe, da habe ich so einen Stich im Herz, muss ich sagen, wenn ich die Kolleginnen und Kollegen sehe. Aber in der Tat ist dieses Buch… Es war mir ein Bedürfnis, einen liebevollen, also so weit wie möglich liebevollen, Abschiedsbrief vom Orchestergraben zu schreiben. 

Anna: 

Ist denn… Also das Buch ist auf jeden Fall liebevoll, aber es ist ja durchaus auch ganz schön scharf, scharfsinnig kann man sagen. Also nicht scharf im Sinne von „bissig“ oder „böse“ oder so, aber es ist sehr, sehr scharf beobachtet und sehr detailreich beschrieben. Ist das inzwischen schon so ein bisschen so ein Klassiker geworden, in Orchestergräben? Wird das da schon vielfach gelesen und was hast du für Reaktionen bekommen auf dieses Buch? Ich meine, es ist ja schon ein Jahr her, dass es erschienen ist. 

Ofer: 

In der Tat, ich habe von einigen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen in Deutschland sehr schöne Reaktionen bekommen, als sie das Buch plötzlich entdeckt haben, zufällig. Und in der Tat, neulich gab es ein Konzert der Berliner Philharmoniker, ein Solidaritätskonzert mit den Menschen hier im Nahen Osten. Und der Orchesterwart ist versehentlich zweimal auf die Bühne gekommen und es wurde ihm deshalb applaudiert. Und da haben mir mehrere Menschen live aus dem Saal geschrieben: Mensch, Ofer, jetzt ist gerade der Orchesterwart auf der Bühne, es wird ihm applaudiert und wir müssen unweigerlich an deinen Orchesterwart aus „Singularkollektiv“ denken. 

Anna: 

Was ist das für ein Orchesterwart, den du da beschreibst im „Singularkollektiv“? 

Ofer: 

Der Orchesterwart, genauso wie andere, (gehört zu den,) ich will nicht sagen „Randfiguren“, weil es sind überhaupt keine Randfiguren, es sind eben die eigentlich besten Beobachterinnen und Beobachter des Orchesterlebens: der Orchesterwart, der Brezelverkäufer, der Pförtner. Es sind diejenigen, die wirklich hinter den Kulissen sind, es sind diejenigen, die wirklich – du hast es vorhin beschrieben, man sieht diesen Glanz, diese Glorie der Welt der Klassik –, aber sie können genau sehen, wie es menschelt zwischen den Musikerinnen und Musikern. Sie haben eigentlich die beste Perspektive, um das zu beschreiben. In dem Buch gibt es tatsächlich ein Interview mit einem Orchesterwart, der eine Orchestertournee, diese sehr spezielle Form des Zusammenlebens, würde ich sagen, beschreibt und was da alles auf dieser Tournee passiert. 

Anna: 

Also der Orchesterwart ist so ein bisschen wie der Manager von so einem Orchester? 

Ofer: 

Der Manager wäre dann tatsächlich so eine Überfunktion. Der Orchesterwart ist derjenige, der, ich würde fast sagen, das Orchester an die reale Welt anknüpft. Er gibt den Musiker:innen die Noten, die Stimmen. Er ordnet die Stühle auf der Bühne, die Notenständer. Er schleppt die Bässe, er schleppt die Instrumente der Schlagzeuger. Also er ist derjenige, der irgendwie dafür sorgt, dass die Musikerinnen und Musiker, die manchmal… Du hast vorher gesagt, es ist liebevoll und manchmal scharf, ich würde sagen schon, in der Tat gibt es hier oder da die scharfe Beobachtung: Manchmal brauchen die Musikerinnen und Musiker doch ein bisschen Hilfe, eben diesen Anschluss an die reale Welt zu finden und genau dafür ist der Orchesterwart auch da. 

Anna: 

Und genau diesen Anschluss an die reale Welt, den leistest du ja als Autor da auch in diesem Buch, und der Erzähler damit auch. Ich finde das ganz schön und ganz erfahrbar erzählt. Gleich im ersten Kapitel, diese ersten beiden Seiten, da wird richtig spürbar, was da für eine Anspannung herrscht, wie anstrengend das ist, wie konzentriert man dann ist. Das ist ja dann auch aus der Sicht des Hornisten erzählt, wie konzentriert man da seine Einsätze abwartet und dann seine Töne spielt. Und dann beschreibst du auch so ganz typische kleine Gesten, wie diese typische Bewegung, wenn ein Musiker in das Orchester kommt, sich hinsetzt, dann nochmal leicht aufsteht, um hinten diesen Frackschwanz hinter den Stuhl fallen zu lassen. Das sind ganz, ganz feine Beobachtungen. Und ich habe mich gefragt, hättest du das auch so gut beobachten und beschreiben können, wenn du zum Beispiel Geiger wärst? Als Geiger bist du ja viel mehr im Einsatz und hast viel weniger Pausen. Also ist das quasi auch ein bisschen deiner Position als Hornist zu verdanken, dass du diese ganzen Beobachtungen so gut machen konntest? 

Ofer: 

Ich würde sagen, auf jeden Fall. Also man liest, dass dieses Buch von einem Hornisten oder zumindest von einem Bläser, Blechbläser geschrieben wurde, unter anderem, das benennst du auch gerade, weil die Blechbläser ganz schön viel Zeit haben, wenn sie im Orchestergraben sitzen. Ich befürchte, die Kolleginnen und Kollegen der Streicher haben viel mehr zu tun. Es gibt zwar die gemeinsamen Momente, wie eben den Frackschwanz in Ordnung zu bringen, bevor man sich hinsetzt, aber die Streicherinnen und Streicher arbeiten wesentlich mehr, vor allem im Orchestergraben, vor allem im Opernhaus. Die Bläser, vor allem die Hornisten, es gibt aber mehr: die Tubisten, die Schlagzeuger – sie haben schön viel Zeit, eben diese wahnsinnige Zusammenkunft von Menschen zu beobachten. Und eben diese kleinen Zeremonien… Also das Orchester ist ein unglaublich zeremonieller Ort. Und diese kleinen Zeremonien: den Frackschwanz in Ordnung bringen, wie man atmet, wie man seine Kollegen begrüßt, wie man „Bravo“ zueinander sagt, wortlos. Das ist es auch: Es ist eigentlich eine wortlose, eine nonverbale Welt. Man kommuniziert auch miteinander nonverbal, im Guten wie im Schlechten übrigens. Und das macht es auch so faszinierend. 

Anna: 

Das Buch heißt ja „Singularkollektiv“ und schon auf den ersten Seiten wird klar, dass damit irgendwie das Orchester gemeint ist. Was ist denn ein „Singularkollektiv“ und wieso ist ein Orchester ein „Singularkollektiv“? 

Ofer: 

Ein Singularkollektiv… Also erstmal, dieser Begriff ist ein Resultat eines Übersetzungsfehlers. Deutsch ist nicht meine Muttersprache und ich habe versucht, einen hebräischen Begriff ins Deutsche zu übersetzen. Es sollte eigentlich „Kollektivsingular“ heißen, aber ich habe aus Versehen „Singularkollektiv“ geschrieben und es ist so lange auf dem Papier geblieben, dass ich dachte… Ja, also irgendwann, findet man Gefallen an diesem oder jenem Begriff. Ich dachte, dieser Begriff bleibt. Ich bin dem Verlag, dem Wallstein-Verlag, endlos dankbar, meiner Lektorin Svenja Bischoff, dass sie das akzeptiert haben als Titel. Und in diesem Titel, „Singularkollektiv“, versuche ich die Spannung zu beschreiben, die das Leben eines Orchestermusikers ausmacht. Zwischen dem Singular, also zwischen diesen sehr persönlichen Empfindungen, die du hast, wenn du im Orchestergraben sitzt, wie in dem ersten Text, – also wenn du den Anfang vom „Rheingold“ am Horn spielen musst, das ist wirklich ein meditativer Moment –, und dem Kollektiv, dem Orchester. Zwischen der Einsamkeit des Übezimmers und der Anonymität, vielleicht, der Orchesterreihen. Und ich möchte zumindest hoffen, dass in jedem Text auch sichtbar wird, dass ich zwar über das Orchesterleben schreibe, aber jede solche zwischenmenschliche Begegnung, jede solche zwischenmenschliche Dynamik nicht nur für das Orchester gilt, sondern eben auch unter anderem als gesellschaftliche Metapher herhalten könnte. 

Anna: 

Diese Geschichten, die du da erzählst von den Menschen im Orchestergraben, die haben oft so einen Hang zum Melancholisch-Komischen. Also da ist zum Beispiel der Beckenspieler, der seinen einzigen Einsatz vermasselt, für den er mit auf einen Auslandsauftritt gereist ist, ganz weit. Er hat dann nur einen einzigen Schlag zu spielen und den verpasst er. Oder da ist Herr Müller, ein Geiger, der zu spät zum Konzert kommt und dann hofft, dass das Orchester auf ihn wartet, aber das tut es nicht. Was haben denn diese Menschen, die da im Orchester versammelt sind, gemein? 

Ofer: 

Oh, das ist eine schöne Frage. Also ich würde fast plump, etwas pathetisch, antworten: Dass sie Menschen sind. Und eben in dem Orchester… Also nochmal, du hast es vorhin gesagt: Man geht ins Konzert, man sieht diesen Glanz, man sieht dieses… Also man hält immer klassische Orchester oder alle Menschen, die irgendwas mit Klassik zu tun haben, irgendwie für ganz kultivierte – können sie ja sein – ganz kultivierte Personen, die von früh bis spät nur über Bach und Mozart sinnieren. Das tun sie aber nicht. Das sind Menschen, mit all dem, was dazugehört. Und Herr Müller: Ich liebe Herrn Müller. Es ist wirklich eine meiner Lieblingsfiguren in dem Buch. Herr Müller, der zweite Geiger, den eigentlich keiner bemerkt. Und vielleicht gibt es sogar Kollegen im Orchester, die nicht mal wissen, dass er Herr Müller heißt und wie lange er schon im Orchester ist. Und er kommt zu spät. Ja, das passiert jedem. Er kommt zu spät ins Konzert und sinniert darüber oder fragt sich: Wird auf mich gewartet? Und sagt zum Beispiel, auf einen anderen Kollegen, auf den zweiten Oboisten, wurde schon einmal gewartet, also das Konzert ging später los. Weil ich meine, man kann ohne zweite Oboe kein Konzert spielen. Weil die Bläser, das ist nun mal so, also da hat jeder seine eigene Stimme. Wenn man Geige spielt oder Cello oder Bratsche oder Kontrabass, dann gibt es mehrere Menschen, die die gleiche Stimme spielen. Und Herr Müller fragt sich: Wird auf mich gewartet? Also was ist mein Platz innerhalb dieses Orchesters? Und es wird eben nicht auf ihn gewartet. Und ich glaube, da muss man kein Geiger oder kein Orchestermusiker sein, um sich mit diesen Fragen zu identifizieren. 

Anna: 

Ja, ich fand das auch eine ganz, ganz berührende Geschichte, also es tut einem so leid. Das ist überhaupt nicht plakativ erzählt, aber auf eine Art hat das so eine Tragik und es steckt solch ein Schmerz darin, als dann diese Tür zugeht und er sieht, oh, sein Stuhl ist jetzt draußen und er wird jetzt nicht mitspielen. 

Ofer: 

Aber gleichzeitig… Weil diese Geschichte spielt ja auf zwei Zeitebenen, sozusagen. Also die eine Zeitebene ist: Herr Müller, schweißgebadet mit einem zerknitterten Frackhemd, wie er seinen Weg meistert durch die Stadt auf dem Weg zum Konzertsaal. Und die andere Zeitebene, viel früher, ist der Moment, wo Herr Müller sein Probespiel, ja, also quasi sein Vorstellungsgespräch, sein Vorspielen fürs Orchester spielt. Also es sind diese zwei Momente, die eine Frage nach Zugehörigkeit stellen. Und es sind schwere Fragen. Es sind Fragen, mit denen wir uns alle beschäftigen. Es sind Fragen, die auch tatsächlich melancholisch sein können, auch schmerzhaft sein können, aber sie haben auch was Schönes an sich. Herr Müller schafft das Probespiel in dem Moment, als er plötzlich aufhört, daran zu denken, an diese Fragen, sondern einfach einer Kollegin dabei zuhört, wie sie gerade aufgeregt auf der Bühne steht und diese Aufregung zulässt und diese Aufregung genießt und das Unperfekte genießt. Und das ist der Moment, in dem Herr Müller es ins Orchester schafft, die Stelle im Orchester bekommt. Aber dann tatsächlich am Ende: Wir sehen, wie die Tür zugeht, wie der Orchesterwart – nochmal der Orchesterwart – den Notenständer, den Stuhl von Herrn Müller rausträgt und Herr Müller hört, wie das Orchester ohne ihn spielt. 

Anna: 

Wieso eignet sich denn das Orchester so gut, um daran entlang – allegorisch oder metaphorisch – vom Menschen, vom Menschsein zu erzählen? 

Ofer: 

Ich würde sagen, ich kenne kaum einen Ort in der Welt, der so reglementiert, der so reguliert ist, wie der Konzertsaal oder der Opernsaal. Vielleicht ein Operationssaal, weiß ich nicht, wo jede Bewegung, jede Geste, jede Dynamik vorgesehen, geplant und klar ist. Und an so einem Ort… Oder dieser Ort wirkt wie, ich würde sagen, fast wie eine Lupe, wie ein Vergrößerungsglas. Und jede kleine Abweichung, jede kleine Bewegung, die irgendwie nicht ganz passt, die fällt sofort auf. Eben der Beckenspieler, der tausende Kilometer auf eine Tournee reist und seinen einzigen Schlag, ja, nur diesen einen Schlag im langsamen Satz der Siebten Sinfonie von Anton Bruckner, verpasst. Was bedeutet das? Oder in der Geschichte „Antizipieren“: Da sitzen zwei Musiker nebeneinander. Und der klassische Musiker, der Orchestermusiker… Also einer ist Jazzmusiker, Straßenmusiker, – womit ich nicht sagen will, dass alle Jazzmusiker Straßenmusiker sind, um Himmels willen, so viel Kollegialität muss sein! Aber der klassische Musiker, der eigentlich ein zweiter Bläser ist, – wie übrigens ich es war, ich war zweiter Hornist, ich war kein Solo-Hornist –, beschreibt, wie es ist, neben dem Solo-Hornisten zu spielen und mit ihm auf nonverbale Weise zu kommunizieren. Wie man plötzlich hört, wie der andere atmet. Man hört fast, also man ahmt fast den Herzschlag des anderen nach, man bewegt sich mit dem anderen. Und diese Art der Kommunikation so präzise zu beobachten, dieses Zwischenmenschliche so präzise zu sehen, das gibt es an kaum einem anderen Ort wie im Orchestergraben, wie auf der Orchesterbühne. 

Anna: 

Wie oft kommt das denn vor, dass man diesen gemeinsamen Puls so spürt? Also ist das was, was auch wirklich regelmäßig entsteht in solchen Konzerten oder in Proben? Oder ist es schon was, was ab und zu mal passiert und dann ist es halt wahnsinnig besonders? 

Ofer: 

Also weil du mir diese Frage stellst, zehn Jahre nachdem ich, – also übrigens fast auf den Tag genau zehn Jahre, nachdem ich meinen letzten Dienst als Orchestermusiker gespielt habe –, habe ich vielleicht eine sehr verklärte Antwort. Und ich würde sagen: Es ist eine Grundvoraussetzung. Also wenn es nicht passiert, dann ist etwas nicht in Ordnung. Es ist eine zweite Natur für Musikerinnen und Musiker. Und es geht so weit, dass du neben Kolleginnen und Kollegen sitzt, die du nicht magst, die du überhaupt nicht aushalten kannst. Ich habe mal in einem Orchester gespielt, irgendwo in Deutschland, ohne Namen, wo zwei Bläser elf Jahre, zwölf Jahre kein Wort miteinander gewechselt haben. Also wirklich kein einziges. Aber sie waren erster und zweiter Bläser der gleichen Gruppe und haben wunderbar miteinander gespielt. Ich beschreibe das an einer Stelle im Buch wie ein Schwarm. Ja, es klingt fast ein bisschen… Nicht abschätzig, aber ein bisschen so. Ist aber überhaupt nicht so gemeint, sondern es ist wirklich so: Man kommuniziert auf einer so tiefen Ebene. Und ich würde sagen, diese Ebene der Kommunikation, diese Art der Kommunikation ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass ein Orchester, – es gibt diesen schönen Begriff im Deutschen, Klangkörper, oder jetzt mein Vorschlag, „Singularkollektiv“ –, dass dieser Klangkörper, dass dieses Zusammenspielen auch funktioniert. 

Anna: 

Also das heißt: Auch deshalb ist vielleicht das Orchester so eine wunderbare Blaupause dafür, wie Zusammenleben funktionieren kann, selbst wenn man sich eigentlich gar nicht versteht? 

Ofer: 

Auf jeden Fall. Und ich weiß, dass es inzwischen viele Orchester gibt, die sich für irgendwelche Kurse für Führungskräfte anbieten, um diese Art der Kommunikation zu lernen, und wie man gut miteinander kommuniziert. Allerdings muss man sagen, es gibt eine Sache, die es im Orchester auf keinen Fall gibt, und das ist Demokratie. Das schreibe ich auch im Buch: Man muss immer mit Vorsicht das Orchester als gesellschaftliche Metapher nehmen, weil ein Orchester ist vieles. Ein demokratischer Ort ist es nicht. 

Anna: 

Das ist schön, dass du das aufbringst, weil das wäre nämlich auch genau meine nächste Frage gewesen. Das fand ich total unterhaltsam, deine Beschreibungen oder deine Ausführungen dazu, dass das Orchester eben keine Demokratie ist. Wieso ist es denn keine Demokratie? 

Ofer: 

Also erstmal vielleicht: Die Idee, dieses Buch zu schreiben, entstand eigentlich… Also was ich damit ursprünglich machen wollte, waren kleine Wurfsendungen für Deutschlandfunk Kultur. Also ich schreibe seit 2015 für das Politische Feuilleton beim Deutschlandfunk und ich dachte… – so ist es übrigens auch bis heute in meinem Computer gespeichert: gesellschaftlich-musikalisches Feuilleton, ich dachte, ich nehme das Orchester einfach als Metapher für ein gesellschaftliches, für ein politisches Feuilleton. Aber während ich das Buch geschrieben habe, habe ich gesagt, okay, aber eigentlich ist das ein unglaublich hierarchischer Ort. Es steht sogar in deinem Arbeitsvertrag, dass du dem Stimmführer zu gehorchen hast, und der Stimmführer hat dem Generalmusikdirektor oder -direktorin, also Dirigent oder Dirigentin zu gehorchen. Da gibt es eigentlich keine Diskussion. Es gibt Orchester, die etwas demokratischer sind, die Berliner Philharmoniker zum Beispiel, die selber ihren Generalmusikdirektor oder -direktorin – bis heute nur Direktoren – wählen. Aber in dem Moment des Musizierens, in dem Moment des Probens gibt es eigentlich keine Demokratie. Es gibt die Diktatur der Noten, die Diktatur des Notenmaterials, es gibt die Diktatur des Dirigenten oder der Dirigentin, es gibt die Diktatur, wie gesagt, dieses reglementierten Ortes, des Konzertsaals. Es ist auf jeden Fall ein Ort, wo, – ich schreibe ja über das Jugendorchester –, wo junge Menschen zum ersten Mal vom Rausch des Kollektivs erfahren, aber nicht unbedingt vom Glück der Demokratie. 

Anna: 

Und was ich auch interessant fand, das erwähnst du auch öfters in dem Buch, dass ja die Orchestermusiker Orchesterbeamte seien, die sich aber einbilden, eben keine zu sein. Was meinst du damit? Also wieso sind das mehr Beamte als Künstler? Das fand ich irgendwie, ja, amüsant. 

Ofer: 

Amüsant ist höflich ausgedrückt. Das sind die Momente, die tatsächlich ein bisschen schärfer sind. Und in einer anderen Geschichte, in Wozzeck, beschreibe ich ebenfalls die Gedanken eines Bläsers, der es beschreibt, wie schmal dieser Grat ist, wenn man als Orchestermusiker oder - musikerin tätig ist, zwischen Beamtentum, also Kunstbeamtentum und brotloser Kunst. Weil als Orchestermusiker oder Musikerin bist du nun mal wirklich… Ich habe vorher von diesem Diktat der Noten oder des Dirigenten gesprochen, da hat man wirklich nicht sehr viel Freiheit. Und da den Platz für Kunst, für den persönlichen Ausdruck zu finden, ist wahnsinnig schwer und zum Teil unmöglich. Also es ist nun mal so, dass man manchmal wirklich… Man macht das, was von einem verlangt wird und man hat sehr, sehr wenig Platz. Also man muss einfach eine präzise Wiedergabe produzieren. Vielmehr nicht. Wenn man das ein, zwei, drei Monate macht, ist es gut. Wenn man das 30 Jahre lang macht, ist die Gefahr, also besteht die Gefahr auf jeden Fall, dass man zu einem Musikbeamten wird. Aber was ich da zumindest versuche… Oder ich sage es anders: Man soll sich dieser Gefahr bewusst sein und sie nicht unterschätzen. Aber was Musikerinnen und Musiker davor ein bisschen schützt, ist die Liebe zum Handwerk. Denn Musik, und das hast du ebenfalls schon ein paar Mal erwähnt, ist sehr körperlich. Es ist eine sehr körperliche Erfahrung. Es ist Handwerk. Mein Professor an der Universität der Künste Berlin, Christian Dallmann, hat mir gesagt, ich bringe dir Hornspielen bei, ich bringe dir nicht Musik bei. Das machst du selber. 

Anna: 

Und genau das behandelst du ja auch auf eine ganz, finde ich, schöne und unterhaltsame Weise in dieser Erzählung über den Orchestermusiker, der auf den Straßenmusiker trifft. Die dann versuchen, zusammen zu spielen. Und da geht es ja auch genau, glaube ich, um diese Freiheit, oder? Die man dann hat, um dann auch selber mal einen eigenen Ausdruck zu finden? 

Ofer: 

Ja, weil der Straßenmusiker oder Jazzmusiker, – nochmal, nicht alle Jazzmusiker sind Straßenmusiker, um Himmels Willen, und es gibt fantastische Straßenmusiker –, ist die Verkörperung von Freiheit. Also ich kenne selber das Gefühl: Als ich zum ersten Mal in einer Big Band gespielt habe als Hornist und ein Kollege neben mir anfing zu improvisieren. Ich meine, bei mir ist es so, wenn du meine Noten wegnimmst, das ist, als ob du den Stecker gezogen hättest. Also da kann ich nicht weiterspielen, das geht nicht. Und diese Versuchung, diese Verführung der Freiheit ist auf jeden Fall groß, aber man muss auch sagen, die zwei Musiker, so verschieden sie auch sind, sie treffen sich beim Handwerklichen. Sie treffen sich beim Handwerklichen, und sie treffen sich bei diesem Moment… Ich meine sie treffen sich in einer verwüsteten Landschaft. Sie treffen sich mitten im Krieg. Und das sehen wir auch heute: Dieser Moment der Kunst, der Moment der Musik, der Moment der Literatur, der Moment der Kunst inmitten des Krieges, inmitten des Grauens, ist das, was Künstlerinnen und Künstler, egal aus welcher Sparte – das ist das, was sie vereint. 

Anna: 

Dieses Buch kam vor einem Jahr heraus. Das heißt das war noch vor dem Überfall der Hamas und vor dem darauf folgenden Gaza-Krieg. Und trotzdem gibt es ja schon eine Erzählung in dem Buch, in der der Krieg Einzug erhält in das Orchester. Und ich habe mich da gefragt: Hast du das mal erlebt? Also du beschreibst ja darin, dass da ein Konzert immer wieder unterbrochen wird durch Luftalarm. Kennst du das aus deiner eigenen Geschichte als Orchestermusiker? 

Ofer: 

Diese Geschichte ist eine wahre Geschichte. Diese Geschichte habe ich erlebt während eines der früheren Gaza-Kriege in Israel. Da haben wir „Bilder einer Ausstellung“ gespielt und wurden immer wieder vom Luftalarm unterbrochen. Dieses Buch wurde auch geschrieben nach der Kriegsausweitung in der Ukraine. Und es ist in der Tat so, wenn man in Israel lebt, wenn man in Israel musiziert, – also ich war zwar fast mein ganzes Leben als Musiker in Deutschland tätig, aber war auch fünf Jahre als Musiker hier in Israel tätig –, dann ist der Krieg ein unmittelbarer Teil des Alltags. Und ich habe mich an mehreren Stellen in diesem Buch gefragt, was macht der Krieg mit der Musik? Was macht die Musik mit dem Krieg? Welchen Platz hat Kunst oder welchen Platz hat die Musik inmitten des Krieges? Wie kann Kunst missbraucht werden? Da schreibe ich über Nationalhymnen: Wie kann Kunst missbraucht werden, um den Krieg zu verherrlichen? Auch das sind Fragen, die immer wieder relevant und aktuell sind. 

Anna: 

Also man muss vielleicht dazu sagen: Du bist in Jerusalem geboren, lebst heute in Haifa und Berlin und warst eben auch einige Jahre Teil des West Eastern Divan Orchestras, das es seit 1999 gibt und von Daniel Barenboim dirigiert wird. Und das Besondere an diesem Orchester ist, dass es zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musiker:innen besteht und sich für friedliche Lösungen im Nahostkonflikt einsetzt. Und das Orchester war übrigens auch vor Kurzem hier in Bremen zu Gast. Worin liegt denn deiner Meinung nach, auch in diesem politischen Kontext des Nahostkonflikts, diese verbindende Kraft von Orchestern? 

Ofer: 

Also das West Eastern Divan Orchestra, das mein Leben verändert hat… Also ich bin sehr glücklich, sagen zu dürfen, dass ich da im ersten Jahrgang dabei war, 1999 bis 2001, das heißt in der Zeit, als sowohl Daniel Barenboim als auch Edward Said, sie haben ja beide das Orchester gegründet, dabei waren. Und mit diesem Orchester bin ich auch nach Deutschland gekommen. Dank dieses Orchesters konnte ich in Deutschland studieren. Und du hast gesagt, das Orchester bietet Lösungsansätze für den Nahostkonflikt. Ich würde sagen, das Orchester lebt eine mögliche Zukunft vor. Vielleicht eben – um auf das frühere Thema zurückzugreifen – wie man miteinander kommunizieren kann, wie man miteinander, wie man voneinander im guten Sinne abhängig ist, um das große Ganze, um das Gemeinsame zu schaffen, was eben die klassische Musik ist. Natürlich ist das West Eastern Divan Orchestra… Also es gibt so einen Moment, wo es ein bisschen knirscht, weil eigentlich ist es für für die Musik egal, welcher Nation du angehörst. Es ist egal, ob du jüdische Israelin oder Palästinenserin, Syrer bist, es ist wurscht. Es muss auch wurscht sein. Es muss egal sein. Und wie wir wissen, es gibt Musikerinnen und Musiker, es gab Komponistinnen und Komponisten, vor allem Komponisten und das sage ich als jemand… Ich meine, dieses Buch fängt an mit Wagner. Ich bin jüdischer, israelischer Musiker. Wir wissen, was und wie Wagner über Juden in der Kunst geschrieben hat. Es ist eigentlich unverzeihlich. Und dass ich über ihn schreibe, soll keineswegs eine Normalisierung oder eine Entschuldigung sein. Wagner wird auch nach wie vor in Israel nicht gespielt. Das heißt, dieser Moment, wo das Nationale und das Universelle des Orchesters, wo beides aufeinandertrifft, ist ein interessanter Moment. Und der ist nicht immer einfach. Und ich war ebenfalls sehr glücklich, dass die Akademie, also die BarenboimSaid Akademie in Berlin der Ort war, wo dieses Buch seine Premiere feiern durfte. Übrigens verspätet, weil die Premiere war für, ich glaube, den 10. oder 11. Oktober geplant. Also wenige Tage nach dem Überfall der Hamas auf Israel und Beginn des Gaza-Krieges. Sie wurde nachgeholt im März. Wir hatten gedacht, bis März ist der Krieg vorbei. Wie wir wissen, unbegreiflicherweise sind wir schon über neun Monate nach Kriegsausbruch und der Krieg tobt nach wie vor. Und dass dieses Buch dort vorgestellt werden konnte, war für mich ein Riesenglück. Und ich weiß, wie herausfordernd es ist für die Akademie und ich finde es bewundernswert, wie sie das schaffen, den Klangkörper nicht zerbrechen zu lassen, diese vorgelebte Vision, eine Realität, eine Zukunft nicht zerbrechen zu lassen. Ich weiß, dass viele Menschen sehr viel Hoffnung und sehr viel Inspiration aus dem West Eastern Divan Orchestra und aus der Akademie schöpfen, vollkommen zu Recht. 

Anna: 

Also das heißt: Das Orchester ist ein Ort der Begegnung von verschiedenen Menschen, die zumindest durch die Musik für einen Moment auch eine gemeinsame Sprache finden? 

Ofer: 

Auf jeden Fall, aber weil sie von einem extrem mächtigen Musiker „gezwungen“ werden. Da sind wir wieder bei der Frage der Musik. Ich meine, wenn Daniel Barenboim dich anruft und sagt, komm mal in mein Orchester spielen, da brauchst du keine Millisekunde, um Ja zu sagen. Aber für mich war übrigens die Teilnahme am West Eastern Divan Orchestra Teil meiner Biografie, nicht nur im musikalischen Sinne. Ich war seit 1993, zu Zeiten des Osloer Friedensabkommens oder der Verhandlungen, schon in Friedens-NGOs hier in Israel tätig. Das heißt, für mich war das eigentlich eine natürliche Entwicklung, in einem israelisch-arabischen Orchester zu spielen. Aber ja, also das muss man auch fragen: In welchem Rahmen ist das möglich? Also welche Rolle spielt das Elitäre dabei? Welche Rolle spielt das Prestigehafte dabei? Das ist nicht zu übersehen. 

Anna: 

Auch wieder ein, ich sag mal, weltlicher Aspekt, vor dem das Orchester eben auch nicht gefeit ist. 

Ofer: 

Auf jeden Fall. Also Orchester oder klassische Musik: Ich meine, wie privilegiert sind wir, dass wir in einer Zeit leben, wo es noch so viele klassische Orchester gibt! Ich meine, in 100 Jahren, das weiß ich nicht, ob wir nach wie vor… Ich meine, allein in Berlin drei Opernhäuser und vier Sinfonieorchester, das ist ein Reichtum. Natürlich nur möglich durch Subventionen, nur durch ein gesellschaftliches Verständnis, dass das wichtig ist. Ich meine, das Orchester ist so ein zerbrechliches Wesen. Es ist so ein filigranes Wesen. Es kann nur existieren, wenn die ganze Gesellschaft das mitträgt. Ich hoffe natürlich sehr, dass das weiterhin so bleibt. Aber ja, die Zukunft der klassischen Musik ist auf jeden Fall so wie ihre Vergangenheit: Sehr spannend. 

Anna: 

Was ja auch wieder zeigt, das Orchester existiert halt auch nicht für sich, sondern es braucht halt ein Publikum, vor dem es auftritt. Es braucht immer auch Menschen, die sich das anhören und anschauen wollen und die in die Konzerte kommen. 

Ofer: 

Auf jeden Fall. Ich habe versucht… Neulich, das ist schön, neulich habe ich einen sehr schönen Leserinnenbrief bekommen aus Hamburg. Eine Dame, die sich für das Buch bedankte und nun nach einem „Singularkollektiv Zwei“ verlangte, und zwar genau für das Publikum – oder über das Publikum. 

Anna: 

Und wird es das geben? 

Ofer: 

Also ansatzweise gibt es ja schon Momente im Publikum, hier im „Singularkollektiv“. Bei der Generalprobe, bei der Geschichte „Aufmerksamkeit“ über die ältere Dame, die den leisesten Moment im Konzert aussucht, um ihr Hustenbonbon auszupacken, und zwar so laut, wie es nur geht. Und zwar aus einem guten Grund. Also ich habe Jahre gebraucht, um das zu verstehen, wirklich. Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, wieso man das macht. Ich hoffe, dass ich mit dieser Geschichte eine mögliche Antwort, eine mögliche Erklärung anbieten kann. 

Anna: 

Und wieso? Also was ist der Grund der Dame, da so genüsslich ihr Cellophanpapier auszurollen? 

Ofer: 

Naja, es ist eben die Frage der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Also ich würde es den Zuhörerinnen und Zuhörern überlassen, diese Geschichte selber zu lesen. Aber in dem Moment, in dem ich als Musiker dann natürlich immer wütend war über diese Leute… Also da beschreibe ich das mitten im Cello-Konzert von Schostakowitsch, ich meine, mein Gott, wie kann man das machen? Ich meine, so eine schöne Stelle in der Kadenz, es ist wie ein Gebet und dann hört man so ein Cellophan. Aber wenn man diese Menschen beobachtet… Nicht alle, es gibt wirklich manchmal Menschen, die sind so unverzeihliche Grobians… Aber nicht nur. Es gibt die Menschen, bei denen du denkst: Es hat einen Grund, der zwar endlos nervend ist, aber gesellschaftlich irgendwie doch verständlich. 

Anna: 

Jetzt bist du ja nicht mehr als hauptberuflicher Musiker unterwegs, sondern hauptsächlich als Autor. In diesem Jahr ist auch ein Buch erschienen, das aus einem Blog hervorgegangen ist, den du letztes Jahr mit der Autorin Sasha Marianna Salzmann geschrieben hast, unmittelbar nach dem Überfall der Hamas im Oktober. Und darin teilt ihr eure persönlichen Erlebnisse in der Zeit nach dem Überfall. Das heißt also, das, was du, grob gesagt, früher als Musiker gemacht hast, auch in dem West Eastern Divan Orchestra, das machst du heute, – also dich für Verständigung einsetzen, nach wie vor bist du ja auch aktiv in NGOs und bist da sehr engagiert, – das machst du eben heute hauptsächlich als Autor oder auch als Redner. Inwiefern unterscheidet sich denn für dich die Arbeit als Autor von der Arbeit als Musiker? 

Ofer: 

Also erstmal: Die Beobachtungen, die im Fundament beider Bücher stehen – und das ist vielleicht ein möglicher Leitfaden zwischen dem Buch mit Sasha Marianna Salzmann, „Gleichzeit“, und „Singularkollektiv“ – ist eben nicht die Beobachtung des Orchesters, des Opernhauses, sondern die Beobachtung des unmittelbaren Kollegen oder der unmittelbaren Kollegin, die nebenan wohnt oder sitzt. In „Gleichzeit“ versuche ich aus der Perspektive von hier, aus dem Vorort von Haifa, wo ich wohne, zu beobachten, was der Krieg mit den Menschen macht. Unter anderem was der Krieg mit der Möglichkeit eines Gesprächs zwischen palästinensischen und jüdischen Israelis macht, mit meinen Partnerinnen und Partnern in den NGOs, die du eben beschrieben hast, wie „Standing Together“ und anderen NGOs, in denen ich tätig bin. Also eben die Beobachtung des Unmittelbaren, nicht des großen Ganzen. Da rede ich nicht über die Zwei-Staaten-Lösung, sondern da rede ich über den Klang des Krieges, über das Gespräch mit meinen Kindern, über den Krieg. Das haben beide Bücher gemein. Ich würde sagen, der große Unterschied zwischen der Tätigkeit als Musiker und der Tätigkeit als Autor und als Schriftsteller, ist, wie man mit Zeit umgeht. Weil wenn man schreibt, hat man ja diese schöne Fähigkeit, wenn man etwas geschrieben hat, bei dem der Klang, – oder wie man Neudeutsch sagt: der Sound – bei dem der nicht so ganz klappt, dann kann man zurückgehen und sagen, okay, dann lese ich das nochmal laut nach und schaue, vielleicht passt dieses oder jenes Wort besser. Das kannst du, wenn du im Orchester spielst, nicht tun. Du bist immer so gut, wie du im letzten Konzert gespielt hast. Also der Umgang, der Fluss der Zeit, das ist der große Unterschied zwischen beiden Tätigkeiten, aber beide müssen gut klingen, auf jeden Fall. 

Anna: 

Und im Erzählband „Singularkollektiv“ verbindest du eben beides, das Schreiben und die Musik. Und was ich da ganz erstaunlich finde: Du hast einen sehr analytischen Blick, der aber eine ganz, ganz poetische und auch sehr unterhaltsame Form findet. Mir hat es auf jeden Fall richtig viel Spaß gemacht, dieses Buch zu lesen. Und auch mal wieder wirklich Lust gemacht, endlich mal wieder in ein klassisches Konzert zu gehen. Das habe ich viel zu lange nicht gemacht. Und man muss dazu auch sagen: Das Buch ist ja nicht nur unbedingt was für Klassikfans. Also man muss gar keine Ahnung haben von der Musik und man muss auch gar nichts mit der Musik anfangen können, um an diesem Buch Spaß zu haben, weil es ja eben nicht primär um die Musik geht, sondern um die Menschen, die sie machen. 

Ofer: 

Das freut mich endlos, dass du das sagst. Es ist eigentlich… Weißt du, wenn man sich vorbereitet für Interviews, da gibt es immer diese Sätze, die man sagen muss. Irgendwie steht mir dieser Satz heute nicht in roten Buchstaben vor dem Gesicht, sollte er aber stehen, weil eben: Es ist kein Buch über Musik, es ist ein Buch über Musikerinnen und Musiker und es ist mein größter Wunsch, dass auch Leserinnen und Leser in dieses Buch reinschauen, die jetzt nicht unbedingt ein Konzertgänger sind. Wenn es sie inspiriert, dann ins Konzert zu gehen, wunderbar, oder ein Instrument in die Hand zu nehmen, auch wunderbar, oder den Kindern ein Instrument in die Hand zu geben, auch wunderschön. Aber eben, man braucht, hoffe ich, kein allzu großes Vorwissen, was die klassische Musik angeht, sondern eher was das Menschliche angeht. Also das wäre zumindest meine Hoffnung. 

Anna: 

Ofer, vielen Dank für deine Zeit und das schöne Gespräch. 

Ofer: 

Ich danke dir, liebe Anna, vielen Dank. 

Anna: 

Und liebe Hörer:innen, wie immer auch an euch Danke fürs Zuhören. Bis zum nächsten Mal.

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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.