#95 Lütfiye Güzel: "Wenn ich schon als radikal gelte, wie ängstlich muss dann die Mehrheit sein" [28:27]
Seit 2014 bringt Lütfiye Güzel all ihre Werke im Eigenverlag bei „Go Güzel Publishing“ selber heraus. Vom Schreiben bis hin zum Verkauf, zum Beispiel aus ihrem Rucksack heraus, arbeitet sie vollkommen eigenständig. Das, was in der Literatur und im Literaturbetrieb „normal“ ist, blendet sie dabei für sich aus. Im Gespräch für den Literaturhaus Podcast erzählt sie Sophie Anggawi über ihre Arbeit: „Irgendwie entsteht immer irgendwas, irgendwo“.
Zum Nachlesen
Sophie:
Über Verlage und den Buchhandel da haben wir in diesem Podcast ja schon häufiger gesprochen. Aber wie Bücher auch ohne Verlage erscheinen können, darüber noch nicht so viel. Und heute darf ich, Sophie Anggawi, mit Lütfiye Güzel sprechen. Sie ist Autorin und bringt ihre Bücher im Selbstverlag „Go Güzel Publishing“ heraus.
Hallo!
Sag mal, seit 2014 erscheinen ja alle deine Texte, egal, ob Gedichte oder was auch immer. Du schreibst alles für den Eigenverlag, bei Go Güzel Publishing. Woher kommt der Name Go Güzel Publishing? Also es ist ja dein Nachname…
Lütfiye:
Ich wollte mal total originell sein. Ich wollte selbstbewusst sein einfach. Ich wollte nicht so auf bescheiden machen, dann mir irgendetwas ausdenken, als wäre ich eine Werbeagentur. Sondern ich habe mir gesagt „ach, komm! Stachel dich mal selbst an! Mach einfach Go Güzel“.
Sophie:
Es klingt auch wie ein Schlachtruf: Go Güzel!
Lütfiye:
So muss es auch sein. Und Güzel ist Türkisch und heißt „schön“. Und da dachte ich, damit kann ich ja auch arbeiten. Vielleicht mal so ein Kampf-Optimismus, gegen den ich ja eigentlich was hab. Ich finde es ja gut, wenn man niedergedrückt ist und das für sich arbeiten lässt. Aber ich fand es gut. Weil das ist halt mein Name und das ist gut. Ich wollte das zu einer Marke machen, weil‘s sonst keiner machen würde.
Sophie:
Es würde sonst keiner machen? Aber du hast ja vorher auch in anderen Verlagen Bücher herausgebracht.
Lütfiye:
Ja, ich habe drei Bücher herausgebracht in einem kleinen Verlag in Duisburg. Das war auch alles super. Aber dann habe ich irgendwie gedacht, ich muss einen Schritt weiter gehen. Ich muss noch autonomer sein. Das ist für mich total wichtig. Das hat viel auch mit meiner Kunst zu tun, weil ich hatte das Gefühl, ich muss mich ganz frei machen von allem.
Sophie:
Also ging es gar nicht so sehr darum, dass der Literaturbetrieb dich genervt hat, sondern dass du für dich da noch autonomer sein woltlest?
Lütfiye:
Viele unterstellen mir, der Literaturbetrieb würde mich nerven. Ehrlich gesagt, ich bin dann eine ganz andere Liga. Ich weiß ehrlich gar nicht, wo der Literaturbetrieb stattfindet. Sonst würde ich da hingehen, ich mache einfach mein eigenes Ding. Dann muss ich auch nicht konkurrieren oder so. Ich habe das für mich gemacht, nicht gegen etwas.
Sophie:
Also. Es war eigentlich ein vielmehr etwas Positives, gar nicht so „Ich muss mich jetzt abwenden“, sondern du hast dich einfach für dich entschieden?
Lütfiye:
Ja und das, was da danach kam oder jetzt kommt teilweise, dieses „oh, das ist so rebellisch“, das ist anti etwas, das gefällt mir auch. Nebenbei gesagt. Aber ich habe festgestellt, dass das, was ich mache, meine neue Tür öffnet. Es geht auch - so es geht doch ohne ordentlichen Verlag.
Sophie:
Und welche Türen hat es für dich geöffnet und für dein Schreiben?
Lütfiye:
Es hat alles echt gemacht. Ich muss nicht mich mit jemandem absprechen, was ich schreibe, wie ich schreibe, wieviel ich schreibe. Das kommt meinem Naturell einfach sehr entgegen. Und deswegen ist das für mich auch kein großer Kampf. Es ist einfach das, was ich mache, durchzuziehen. Einfach den Mut zu haben. Wie so vieles im Leben braucht es Mut.
Sophie:
Aber kannst du mich mal da durchführen? Weil ich stelle mir das vor, also im „normalen Buchbetrieb“ hast du ja für alles jemanden. Du hast jemanden für den Buchdruck. Wer gestaltet das Cover? Dann ist jemand für die PR da. Dann ist noch jemand für die Presse da. Das bist ja alles Du. Du übernimmst das alles alleine. Wie funktioniert das? Wie hast du dich denn in diese ganzen einzelnen Aufgaben reingearbeitet?
Lütfiye:
Indem ich sie gar nicht als Aufgaben gesehen habe. Also, wenn ich die ganzen Richtlinien nehmen würde, von einem sogenannten normalen Betrieb, dann wäre ich ja drin. Aber ich wollte ganz andere Gesetze, vielleicht auch gar keine Gesetze. Ich habe einfach geschrieben. Dann habe ich gesagt, wie bring ich die jetzt raus, kleine Auflagen in so einem Copyladen oder habe die mal kopiert als Books, die auch sehr preiswert sind - oder auch Taschenbücher in wirklich Miniauflagen: 100 gemacht oder so. Und dann hat das eine zum anderen geführt. Aber wie gesagt, es kommt wirklich meinem Naturell zu Gute. Ich habe auch überhaupt kein Problem damit, meine Bücher aus meinen Rucksäcken rauszuholen, zu verkaufen, vor Ort. Presse zu machen oder so anzugeben: „Ja, ich habe jetzt hier diesen Preis gekriegt“. Was oder welche Tür geht jetzt auf. Man muss ein bisschen lässig sein, ein bisschen cool glaube ich.
Sophie:
Stelle ich mir ziemlich cool vor, wenn du einfach deine Bücher so locker aus dem Rucksack rausholst.
Lütfiye:
Ja, klar, oder manchmal sage ich: „Ich habe zwar noch zwei Bücher, habe ich! Aber die verkaufe ich nicht“. Da werden die Leute richtig aggro. „Wie? Es fehlt? Es wird nicht verkauft?“, „Nö, ich verkaufe nicht!“. Ich nehme auch diese Freiheit mit. Diese zwei Bücher doch wieder mit nach Hause zu nehmen.
Sophie:
Was meinst du? Warum werden Sie dann so sauer?
Lütfiye:
Ja, weil die Menschen, viele Menschen, es nicht ertragen, wenn sie etwas nicht konsumieren dürfen. Man muss das mal umdrehen? Das ist echt interessant. Die sagen dann immer „du hast doch da ein Buch auf dem Tisch“. Ja, aber ich nehme es doch mit nach Hause. Das ist so ein Spiel. Das hat irgendwie was. Und ich habe gemerkt, die wollen das unbedingt haben. Und dann bestellen Sie das.
Sophie:
Und dann bestellen sie das. Also das Publikum findet auch dich. Und wie findest du dein Publikum? Ist ja doppeldeutig.
Lütfiye:
Ich hab jetzt überlegt „oh, ich darf jetzt nichts Falsches sagen“. Man sagt ja auch immer, die liest gut oder schlecht. Aber es gibt auch schlechtes Publikum. Wenn ich manchmal auf Lesungen gehe, dann spüre ich, dass ich nichts spüre und umgekehrt genauso. Das ist so wie mit einer Einzelperson. Und dann gibt es so ein Publikum, was dich sofort auffängt und sofort die Ironie versteht oder dich versteht und leben lässt. Das ist schön. Und Publikum finde ich eben meistens auf Lesungen. Es ist schwierig. Also selten wird bestellt, weil ich gehört habe, dass die Menschen Angst haben, sich direkt bei der Dichterin zu melden, weil das eben auch nicht normal ist. Und ich sage auch immer, ich habe keinen Warenkörbchen auf meiner Homepage. Das ist auch irritierend.
Sophie:
Es ist eben ganz anders, als zum Beispiel bei Amazon zu bestellen. Da ist das alles anonym. Man klickt einfach drauf. Und dann ist es am nächsten Tag im Briefkasten. Bei dir funktioniert das ja so, dass du diese Tumblr Webseite hast und dann sind da all deine Werke quasi. Oder ich weiß gar nicht, ob alle drauf sind?
Lütfiye:
Alle Verfügbaren!
Sophie:
Also alle verfügbaren Werke sind dann da gelistet. Und dann muss man die Bestellung an deine Yahoo E-Mail Adresse schicken, eine E-Mail. Wie funktioniert das? Was kommen da für E-Mails an? Also wie schreiben die Leute? Sind sie dann so ganz förmlich und sind so: „Guten Tag, Go Güzel Publishing?“
Lütfiye:
Ja, so ist das. Alles dabei, aber so tendenziell. Ich glaube wirklich, dass die Menschen schreiben, was die Gedichte gemacht haben, also für ihr Leben gebracht haben. Und da bin ich immer so überrascht, wenn sie sagen „ich fühle dasselbe“ oder „das habe ich sofort weiterverschenkt, weil ich jemanden kenne, der ähnlich tickt“. Was auch immer das bedeuten mag. Also die sind wirklich persönlich. Und viele sind doch überrascht, dass ich dann antworte. Das finde ich auch so merkwürdig. Und irgendwie finde ich das schön. Aber ich finde das auch erschreckend, weil ich mir denke, wenn jemand das so macht wie ich und das ist schon so revolutionär oder so. So stark oder wie auch immer die Leute das betiteln. Oder mutig! Dann mache ich mir echt Sorgen, weil ich mir denke, wenn ich schon als radikal gelte, nur weil ich meine Sachen selber tackere oder kein Warenkörbchen habe: Wie sieht es dann auch mit der Masse aus? Und wie ängstlich muss dann der Rest sein oder die Mehrheit, wenn das schon als revolutionär gilt, wenn man seine Bücher selbst herausbringt.
Sophie:
Ja, total. Ich weiß genau, was du meinst. Also ich möchte gar nicht, dass das despektiertlich klingt, aber als Kind alleine bastelt und tackert und druckt man ja ständig, irgendwelche Sachen stempelt man. Und dass dieser Akt von Kreativität dann schon so radikal wirkt. Das ist ja verrückt.
Lütfiye:
Das ist total verrückt. Ich finde das gut. Natürlich, dass ich diejenige bin, die das ausfüllt. Weil es macht Spaß, weil es nicht nur ein Gelaber ist, sondern du lebst das endlich mal, wovon du sprichst. Und es ist wirklich möglich. Und ich finde das gut, weil du dann wiederum Türen öffnest. Ich glaube, dass das alles ein bisschen auflockert. Es ist ja Platz für vieles da. Warum das machen, was alle machen oder was die Mehrheit macht?
Sophie:
Ja, warum? Und das fand ich auch so schön. Die Idee, des alles selber Machens, dieses DIY (Do it Yourself). Ich könnte mir vorstellen, dass diese Idee von Radikalität auch daher kommt, weil das ja sehr eng verbunden ist mit der Punk Szene und die ja auch immer sehr radikal wirkt. Weißt du, was ich meine?
Lütfiye:
Aber für wen radikal? Das ist die Frage. Ich finde das sehr gut. Ich finde Dynamik immer gut. Ich finde auch gut, wenn Dinge so eben auf Umwegen kommen, es muss doch nicht immer alles gleich sein. Es ist doch langweilig. Und man kann etwas ja auch nicht mögen. Aber das ist ja auch eine Freiheit. Dann habe ich die Wahl. Das mag ich und das nicht. Aber wie gesagt, ich arbeite nicht gegen etwas, das ist mir viel zu viel Macht, meinem Gegenüber zu zuzugestehen. Sondern ich mache einfach mein Ding und guck mal, was passiert.
Sophie:
Und was passiert so?
Lütfiye:
Ja, erstaunlich viel, viel Ratlosigkeit und Angst in den Augen vieler Menschen. Die denken: „Was ist das jetzt? Das ist ja was völlig Anderes. Was will die? Ist das jetzt politisch?“ Oder „was ist hier los?“ oder Buchhandlungen, die denken: „Können wir die jetzt anschreiben? Wo finden wir die denn, in welchem Register? Die hat keine ISBN, was machen wir jetzt?“
Sophie:
Ja, was machen wir da?
Lütfiye:
Kreativ werden!
Sophie:
Ist eigentlich irgendeines deiner Werke auch in einer Bibliothek, weil ohne ISBN: wie geht das?
Lütfiye:
Ja, die sind in der Bibliothek in Duisburg zum Beispiel. Ich bin ja aus Duisburg, und das ist sehr nett. Und ich finde es schön, dass es in der Stadtbibliothek und an der Uni Duisburg-Essen. Da kriegt man die Bücher auch.
Sophie:
Kann man sie auch kaufen oder kann man sie sich ausleihen?
Lütfiye:
Die kann man dort ausleihen. Wenn Menschen kein Geld haben, sollen sie unbedingt da hingehen und durchlesen. Genau ja, ist egal, weil man muss ja nicht wirklich alles kaufen. Mein Gott, ich hatte auch nie Kohle für Bücher. Und dann gehst du einfach in die Bibliothek oder hier an die Uni Duisburg-Essen und kannst die Bücher da einsehen, wenn du willst. Also das finde ich gut, dass man die auch leihen kann. Aber sonst kann man die ganz normal bei mir bestellen - oder nach Lesungen. Das läuft auch total einfach. Wirklich. Das geht ganz schnell.
Sophie:
Keine Angst davor haben, an die Yahoo-Mail-Adresse zu schreiben!
Lütfiye:
Nein, absolut nicht. Absolut.
Sophie:
Ich hatte auch das Gefühl: Also man merkt, ob es bei deinen Texten ja auch. Du hast auch mal gesagt „Leben ist schreiben und Schreiben ist Leben“. Das ist für dich einfach auch eins. Und was du gerade erzählst, das ergibt für mich total Sinn.
Lütfiye:
Das ergibt Sinn? Oh, das enttäuscht mich. Okay, ich weiß, was du meinst.
Sophie:
Na ja, ich meine, wenn du einfach das machst, was für dich richtig ist und was für dein Schreiben richtig ist, dann ist das ja auch hoffentlich das Richtige für dein Leben?
Lütfiye:
Ja. Wobei so richtig das Wort „richtig“ ist auch schwierig. Ich weiß nicht, ob es richtig ist für mein Leben. Aber es ist mein Leben. Macht das Sinn jetzt?
Sophie:
Nein?
Lütfiye:
Gut! Aber ich weiß, was du meinst.
Sophie:
Ja, ich finde aber auch, deine Texte kommen sehr poetisch daher. Und dadurch bekommt der Alltag ja auch ein kleines bisschen so ein Schillern.
Lütfiye:
Ja, weil der Alltag, finde ich, alles ist. Und irgendwann wird ja auch alles zum Alltag. Und ich glaube das, was mal ein Journalist gesagt hat - oder vielleicht habe ich es auch selbst gesagt, ich weiß nicht mehr genau - dieses: den Alltag abschreiben. Mehr ist es nicht, aber es ist genug. Es ist genug. Ich muss nicht dazudichten, es ist die Art, wie ich arbeit: das, was da ist, einfach sehen.
Sophie:
Wie funktioniert das für dich? Wie ist dein Schreibprozess? Gibt es da überhaupt einen? Also wenn Leben Schreiben ist und Schreiben ist Leben, dann beginnt das Schreiben ja nie und es endet auch nie?
Lütfiye:
Ja, so ist es.
Sophie:
Aber du setzt dich ja trotzdem hin und schreibst was in den Computer. Oder?
Lütfiye:
Äh, ja. Aber es ist nicht so, dass ich mir jetzt vornehme: Ich mache jetzt ein Gedicht. Sondern manchmal zum Beispiel, wenn ich eine Zeitung vor mir habe und Langeweile, dann schwärze ich einige Sachen, und dann bleibt was übrig und das ist dann auch schon ein Gedicht. Also irgendwie entsteht immer irgendwas irgendwo. Und ich mache so viele Bücher. Ich produziere so viel, dass ich auch kein Mensch bin, der sagt: Jetzt muss das Gedicht fünf Wochen lang in der Schublade lassen und mal darüber meditieren, was das denn bedeutet, sondern ich haue es einfach raus. Und dann: nächstes Buch, nächste Chance. Das ist auch eine Art Fabrik. Gedichtfabrik.
Sophie:
Du bist die Gedicht Fabrik?
Lütfiye:
Genau.
Sophie:
Wie kann ich mir das vorstellen? Also wenn du dann was schwärzt, wo ist dann der Moment, wo du sagst: dieses Gedicht, das ist jetzt bereit, gedruckt zu werden.
Lütfiye:
Das ist intuitiv. Ich glaube, genau dort gibt es auch kein Richtig und kein Falsch. Es endet da, wo es endet, und es ist eigentlich immer im Prozess. Das Gedicht kann auch weitergehen, aber dann höre ich irgendwann auf, aber es ist nicht schlimm. Es kann auch halb ganz sein.
Sophie:
Hast du schon mal ein Gedicht für Jahre abgelegt und dann wieder begonnen zu schreiben?
Lütfiye:
Könnte ich nie machen, weil ich sehr schnell bin. Ich bin so Express. Ich tue immer so, als gäbe es kein Morgen. Deswegen muss ich das beenden. Für mich ist Schnelligkeit auch so eine Qualität von Poetry.
Sophie:
Dass es so flott daherkommt, meinst du?
Lütfiye:
Ja, das ist so einen Rhythmus hat und das ist eine Schnelligkeit, hat eine Geschwindigkeit und nicht dieses: Jetzt muss ich ganz lange über dieses Wort nachdenken, das ist mir zu schwer.
Sophie:
Hast du ein Gedicht, von dem du sagst, das drückt diese Schnelligkeit auch gut aus. Oder ist das in all deinen Gedichten, in deinem Gefühl, drin?
Lütfiye:
Ich hoffe, dass da überall so eine Fahrt ist. Aber zum Beispiel dieses:
Das ist politisch: Einsamkeit, die langweilt
oder
Ohne Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Attacken und Dingen kein Geld, Bett und Straßenbau. Im Prinzip Magen-Darm und Unbehagen.
So, dass es wie so ein Rap ist irgendwie. Dass das schnell ist und aber auch schnell trifft, das ich nicht lange noch auf eine offene Pointe hinarbeiten muss. Wenn ich überhaupt eine Pointe will, sondern dass ich einfach schon da bin.
Sophie:
Du bist schon bei der Pointe.
Lütfiye:
Ja, vielleicht beginne ich mit der einfach.
Sophie:
Eine Pointe kommt ja normalerweise zum Schluss. Also auch selbst in deinen Gedichten, im Schreiben baust du es dir genau so, wie es für dich passt?
Lütfiye:
Ja, weil dieses „Normalerweise“ blende ich aus.
Sophie:
Du blendest aus. Was meinst du damit?
Lütfiye:
So dieses: „ich mache das jetzt mal anders“. Ich will das gar nicht anders machen. Ich will es nur so machen wie ich. Deswegen kann ich mit dem Wort „normal“ auch nicht. Das will ich nicht als Richtlinie nehmen, weil dann bin ich ja wieder Teil des Normalen. Ich versuche, mich so davon wirklich zu befreien und nicht zu sagen „normalerweise macht man das so. Aber ich mache das so!“. Ich will mich nicht positionieren müssen.
Sophie:
Also du bewegst dich sowohl in den Strukturen, wie du deine Werke verteilst und wie sie zu den Leser*innen in kommen, als auch im Schreiben total abseits aller eingetrampelten Pfade. Habe ich das richtig verstanden?
Lütfiye:
Ja, aber selbst wenn ich dann etwas mache, was die Mehrheit macht, dann ist auch das okay, weil ich es will. Also suche ich mir das aus. Aber ob es normal ist oder nicht normal, das entscheidet meine Kunst. Dann in dem Moment.
Sophie:
Was hat deine Kunst noch in deinem Leben alles entschieden?
Lütfiye:
Ich glaube alles. Ich glaube alles. Und es geht noch weiter. Also es entscheidet nicht endgültig. Die Entscheidungen können noch aufgehoben werden und neu entschieden werden.
Sophie:
Du bist in Duisburg-Marxloh aufgewachsen. Das ist auch ein Stadtteil, der ganz oft als sogenannter „sozialer Brennpunkt“ bezeichnet wird. Wie hast du das wahrgenommen als Kind und als Jugendliche, da dann in dieses Schreiben reinzukommen?
Lütfiye:
Erstmal glaube ich, diese Zuschreibungen, die stimmen teilweise und teilweise auch wieder nicht, weil man einfach nicht vergessen darf, dass dort überall Menschen leben. Wenn man jetzt sagen würde „da kann man nicht leben“ oder „das hat keine Lebensqualität“, dann spricht man den Menschen, die dort leben, die Menschlichkeit ab. Es gibt überall Leben, egal wo: Niemand ist 24 Stunden unglücklich oder glücklich. Das zuerst mal. Marxloh war wichtig für mein Schreiben, war sehr wichtig für mein Schreiben. Ich arbeite gerne mit der Tristesse. Auch das mit der Niedergeschlagenheit, mit dem, dass eigentlich nicht viel passiert und man das dann dokumentiert. Und in dem Moment passiert dann doch etwas. Also das war sehr wichtig für mein Schreiben. Ist es immer noch.
Sophie:
Hättest du da ein Beispiel, dass du uns vorlesen könntest.
Lütfiye:
Lang oder was Kurzes?
Sophie:
Wie du möchtest. Wie lange wär's denn: eine Dreiviertelstunde? Vielleicht nicht.
Lütfiye:
Eine Stunde vielleicht!
Klarsicht, den Trübsinn verfolgen, entlang des Schimpfens und Ausschimpfens, die kalten Hände registrieren, nie eingreifen und Vögeln ansehen, die Richtung abwenden, entlang der falschen Zeitpunkte und eine Existenz erahnen. In Klarsichthülle. Eine Unsterblichkeit zu Ende und keine Flügelschläge. Wem gehören die Tauben? Ein Gebiet, eine Trennung, die Kontoren manipulieren, sich der Realität widersetzen, eine Darstellungsmöglichkeit, die Wandlung gestört, abgesehen von irgendetwas ein aufwachsen, wie Eindrücke von einem ausgeschlossen sein, die Wahrheit abzustreifen, eine Gegenwelt anregen, Bedenken in Vibration verwandeln, einem Filter angehören, auf der Spur aufzuwachen, innerhalb der Mühe. Nachlässig, sich am Rande eine Loslösung. Freiheiten erzeugen, die antriebslose Wirklichkeit entschärfen, eine Empfindsamkeit über alles hinaus, grausame Endlichkeit wie der Schlusspunkt einer Körperhaltung, abdrücken und nachlesen. Und alles und alle einschüchternd. Mindestens.
Sophie:
Das finde ich, passt wahnsinnig gut zu dem, was wir gerade alles besprochen haben. Freiheiten erzeugen, Wahrheiten abstreifen, Existenzen erahnen: Das ist ja genau das auch eigentlich, worüber wir gerade geredet haben.
Lütfiye:
Ja, weil ich nicht lüge und ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb ein paar Menschen die Gedichte mögen.
Sophie:
Ein paar Menschen, meinst du?
Lütfiye:
Ja, das ist auch mehr als genug. Stell dir vor, alle würden‘s mögen. Dann hab ich irgendetwas falsch gemacht. Das war doch mal ein Zitat von Oscar Wilde.
Sophie:
Das weiß ich nicht. Ich würde jetzt lügen, wenn ich einfach zustimmen würde: „ja, das war Oscar Wilde“.
Du gibst auch deine Kunst, beziehungsweise deine Arbeit weiter an Jugendliche und Kinder, du machst auch Workshops in Schulen.
Wie bringt man denn Jugendliche dazu, dass sie Zutrauen zu dir gewinnen? Das stelle ich mir immer sehr schwer vor. Ich habe ein Kind, das ist 6, da funktioniert das noch. Aber sobald sie ein bisschen älter werden, werden sie ja auch ein bisschen misstrauischer der Welt und Erwachsenen gegenüber, ja auch zurecht. Wie machst du das, dass du zu ihnen kommst und es schaffst, dass sie sich öffnen?
Lütfiye:
Also erst einmal finde ich Misstrauen ja eigentlich gut. Und wie du sagst, es ist ja auch oft berechtigt. Ich weiß nicht, ob ich Talent für so was hab. Ich finde das auch sehr schwierig, so an Schulen muss ich sagen. Aber das liegt nicht an den Schülerinnen. Das liegt an den Lehrern meistens, weil auch wirklich viele von ihnen sehr ängstlich sind und sagen ja, das ist eine schwierige Klasse. Willst mal gucken, wie wir da hinkommen. Und dann gehst du rein als Außenstehende und merkst, das ist gar nicht so schwierig. Aber Lehrer und Lehrerinnen haben ja auch eine andere Verantwortung. Und ich komme als Gast und kann machen, was ich will: alles durcheinanderbringen. Und dann müssen die Menschen das dann wieder in den Rahmen fassen. Warum auch immer. Ich glaube einfach, dass die Jugendlichen spüren, dass du sie nicht einengen willst. Ich lass die einfach. Wenn jemand keine Lust hat, dann ist das vollkommen in Ordnung. Dann sage ich einfach „mach einfach nicht mit“. Und ich glaube, das ist schon mal die erste Hürde.
Sophie:
Das hören sie selten wahrscheinlich.
Lütfiye:
Ja eigentlich nie. Und ich schicke die Lehrer gerne raus. Es ist schwierig, das zu erklären, weil ich habe nicht wirklich ein Konzept, wie man hört. Ich mache das auch so intuitiv, ich les die Sachen vor, und ich glaube das, was funktioniert, ist einfach, dass sie an meinen Gedichten sehen, dass das nicht so eine metaphern-starke Art des Schreibens ist, wo ich so über tausend Ecken gehe und es so kompliziert wie möglich mache, sondern es ist ja direkt in die Fresse. Und ich glaube, das kommt Ihnen schon entgegen.
Dann kommen die dann an: „oh, ich rappe“ oder „ich schreibe so ich mache Hip-Hop und schreib die Lyrics doch dazu“. Und dass ähnelt dem. Oder einmal hat auch einer was gesagt, das war das größte Kompliment: „Das kann ich auch, wie Sie schreiben“. Und ich habe gesagt „das ist toll“, wusste aber natürlich, dass einfach am schwierigsten ist. Aber ich hab gesagt, „das ist toll, das ist beste Kompliment. Dann mach!“. Es geht ja nicht darum, ob man es kann, sondern erst mal machen. Ja, und das war echt richtig schön, als er das gesagt hat: „Ich kann das auch“. Aber er hat dann gemerkt, dass es doch nicht so einfach ist. Aber er hat versucht und das ist gut.
Sophie:
Das ist toll. Gibt es dann noch mal mit Jugendlichen auch so ein bisschen Kontakt nach solchen Workshops?
Lütfiye:
Ja, die schicken mir dann manchmal ihre Sachen, wie ich das finde und so.
Sophie:
Das ist auch eine Ehre.
Lütfiye:
Das ist echt schön. Manchmal verfolgen die mich auch bis ins Lehrerzimmer. Das ist auch ein bisschen einschüchternd. Aber das hat auch was. Aber ich lande sowieso immer so. Ich wäre eine gute Sozialarbeiterin oder so.
Sophie:
Siehst du deine Arbeit auch als soziale Arbeit?
Lütfiye:
Eigentlich nicht. Aber es hat sich dahin entwickelt. Irgendwie ja. Wenn man so ehrlich ist, ehrlich schreibt und auch keine Angst davor hat, angreifbar zu sein. Weil viele fragen mich dann auch, „du erzählst so Familiengeschichten oder so irgendwie Probleme im Alltag“. Oder was weiß ich, „sich als Mensch als Alien zu fühlen. Man macht sich doch angreifbar?“. Und wenn Menschen merken, dass du keine Angst hast davor, dann werden die selbst auch offener. Irgendwie hat alles, was man macht, hoffentlich einen Einfluss, einen positiven.
Sophie:
Du hast mir auch in der Vorbereitung für dieses Gespräch ein Essay geschickt über dich. Und darin steht auch „in der kleinsten Einheit, im ich, ist Weltpolitik enthalten“. Und das fand ich in einen unheimlich schönen und ermutigenden Gedanken. Hast du das Gefühl, das du das für dich schon total verinnerlicht hast? Und ist das was, was du Schülerinnen und Schülern auch vermitteln kannst?
Lütfiye:
Diese Schülerarbeit, das ist so ein Feld, das ist echt das Zweite, Dritte, was ich mache. Das Wichtigste ist, dass ich einfach meine Gedichte schreibe. Ich glaube, ich habe ein bisschen Probleme damit, jemandem etwas beibringen zu wollen. Ich mag so diese Hierarchie eigentlich nicht. Deswegen mache ich diese Workshops auch nicht mehr. Habe ich auch lange nicht mehr gemacht. Ich habe die am Anfang gemacht, weil ich eine Jugendbewegung antreiben wollte, was auch immer das ist. Aber ich glaube, dass die Art, wie ich lebe, schon politisch ist. Wo ich herkomme, wo ich hin will. Ich glaube, dass das schon sehr politisch ist. Oder wie meine Eltern gelebt haben. Ich glaube, dass ich das lebe schon.
Sophie:
Weißt du, du hast gerade erwähnt, wo du hinwillst, weißt du auch schon. Wo willst du denn hin?
Lütfiye:
Ich will gehen, aber die Richtung wird immer neu definiert. Aber ich will auf jeden Fall weitergehen. Ja, ich weiß nicht, wie man das in die Praxis umsetzt. Aber es klingt schon mal gut.
Sophie:
Es klingt gut, und das mit dem erklären, wie das geht, das machen wir dann wann anders.
Lütfiye:
Ja oder gar nicht. Ich glaube, wenn ich ein Gedicht lese, dann sagt es viel mehr aus als das, was ich dort drum herum erzähle, weil ich über die meisten Dinge in dem Moment nachdenke, indem du mich fragst. In dem Moment, in dem du mich fragst. Deswegen ist das ein bisschen unstrukturiert. Aber ein Gedicht sagt mehr. Ein Gedicht sagt einfach mehr. Zum Beispiel:
Ein Türke fegt Zigarettenreste zusammen, hier am Bahnhof. Es gibt kalte Asche zum Frühstück. Ich habe irgendetwas gedacht, weiß aber nicht mehr was
Sophie:
Danke Lütfiye, dass wir gemeinsam ein bisschen Existenz erahnen konnten und ein bisschen Wahrheit abstreifen konnten. In unserem Gespräch für den Literaturhaus Podcast.
Lütfiye:
Vielen Dank und Existenz ist gut. Es gibt nämlich noch ein Buch von mir, das heißt „existenziell geladen“.
Sophie:
Na, schau mal! Bestellen unter der Yahoo-Adresse
Lütfiye:
Und ohne Warenkorb. Aber Achtung!
Sophie:
Vorsicht! Man muss die E-Mail Adresse anschreiben.
Lütfiye:
Ja, du musst mutig sein und mich anschreiben.
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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.