#105 Wilhelm Bartsch: "Das Logbuch meiner Lebensreise" [27:32]

21. Januar 2025

Wilhelm Bartsch
© Matthias Ritzmann

Als “das Logbuch seiner Lebensreise” sieht Wilhelm Bartsch seinen neuen Gedichtband, der unter dem Titel Hohe See und niemands Land bei Wallstein erschien und mit dem Bremer Literaturpreis 2025 ausgezeichnet wurde. Der Band versammelt Liebesgedichte und verknüpft sie thematisch mit einer Abrechnung. Alles kreist um menschliche Gier, die unseren Globus an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Wilhelm Bartsch beruft sich dabei nicht zuletzt auf die Stimmen der Vergangenheit und bereist die Weltmeere mit den Büchern seiner großen Vorgänger im Gepäck. Von Shakespeare über Novalis, Hölderlin und vielen anderen bis hin zu Wolfgang Hilbig begegnen sie dem Leser. Warum der Autor die Form des Sonetts gewählt hat und wie er „streichend schreibend“ auf das Wesen der Dinge kommt, erzählt er im Gespräch mit Silke Behl.

Zum Nachlesen

Silke Behl: 
Der Podcast heute mit Silke Behl und mit Wilhelm Bartsch. Wilhelm Bartsch, Sie sind gerade für Ihren aktuellen Gedichtband mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet worden. Es ist auch nicht der erste Preis. Sie haben aber gerade für diesen Band bereits bedeutende andere Preise bekommen,die auch mit einem guten Preisgeld verbunden sind. Dazu gratulieren wir ganz, ganz herzlich.

Wilhelm Bartsch:
Danke.

Silke Behl:
Sie sind in Halle an der Saale zu Hause und haben 1986 Ihren ersten Gedichtband veröffentlicht. Und seitdem gelten Sie in Ost wie West eigentlich - mindestens - als Geheimtipp unter Lyrik- und Literaturfans. Und jetzt hat, wie gesagt, hat die Rudolf Alexander Schröder Stiftung sie mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet für den letzten Band, der erschienen ist bei Wallstein unter dem Titel ‚Hohe See und niemands Land‘.
Ich habe ganz oft gelesen in den Rezensionen, dass sie jetzt auf dem Höhepunkt ihres literarischen Schaffens sind und dass es sich hier um so etwas wie die Quintessenz ihrer Weltsicht, ich würde eher sagen, Ihres Weltwissens handelt. Können Sie damit etwas anfangen?

Wilhelm Bartsch:
Ja, ein bisschen schon. Sagen wir mal, dieser Gedichtband ist praktisch das wichtigste Logbuch meiner Lebensreise, wenn man so will. Und in diesem Band sind ganz viele Vorgänger, ja, zum Teil auch mit überarbeiteten Fassungen enthalten. Also, dieser Band hat sich dann nahezu als ein sehr vorhandenes, ein weltweites Projekt entpuppt. Als ich mitten dabei war, habe ich dann gemerkt, dieses wird - für mich wenigstens – mein wichtigstes Buch.
Das es aber so gut ankommt, damit hätte ich jedenfalls nicht in dieser Form gerechnet.

Silke Behl:
Das kann ich mir vorstellen, dass sie sich da wahnsinnig gefreut haben. Und es ist ja auch so etwas wie die Summe Ihres Weltwissens. Darüber würde ich gerne mit Ihnen sprechen. Zunächst mal vielleicht über den Titel: Hohe See und niemands Land.
Das hat ja mehrere Facetten. Was bedeuten diese beiden ja sehr gegensätzlichen Sphären für Sie? ‚Niemands Land‘. Also einmal sind es Landgänge? Und dann wird das Leben, wird die Gesellschaft vom Meer aus betrachtet?

Wilhelm Bartsch:
Ja, natürlich. Aber immer mit der Geliebten dabei als Partnerin. Sonst hätte ich diesen Band so gar nicht geschrieben. 
Und natürlich ist dieser Band eine Weltreise. Und wenn man eine Weltreise oder eine Zeitumsegelung macht, wie ich das vorhatte, dann ist man natürlich immer auch auf hoher See und die Länder, die man durchfährt, die gehören zwar jemanden oder die werden von jemandem verwaltet.
Aber letztendlich ist die wichtigste Frage, die sich für mich, der sich viel mit Politik und Geschichte beschäftigt hat, wie der Mensch mit Eigentum umgeht und was Eigentum überhaupt ist? Und deswegen habe ich im Zentrum meines Buches ein globales Zitat aus dem ‚Blütenstaub‘, dass es am Ende die Natur ist, die alle Form des Eigentums nach und nach zerstört.

Silke Behl:
Dieses Novalis-Zitat steht einem Teil dieses Bandes voran. Also Sie haben das ja ein bisschen gegliedert.

Wilhelm Bartsch:
Und eigentlich aber der Startschuss für den Band, wenn man das so mit Startschuss benennen möchte, war doch eine merkwürdige Erfahrung, eine Erleuchtung praktisch, die ich mit dem 87. Shakespeare Sonett hatte. Da geht es ja darum, dass jemand den Geliebten oder die Geliebte praktisch verabschiedet, weil er nicht wert ist, der Partner dieses Geliebten oder der Geliebten zu sein. Und irgendwie habe ich da was falsch gelesen, so gegen Schluss.
Ich dachte, er redet vielleicht mit Frau Welt und auf einmal hatte ich eine Paraphrase zu diesem Sonett. Ich habe praktisch das Shakespeare Sonett noch mal neu geschrieben, aber es kriegt auf einmal ganz andere Klangfarben und einen ganz anderen Zusammenhang. Auf einmal ist Frau Welt etwas, mit dem wir nicht gut umgegangen sind. Wir sind dann nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern es heißt dort die Krone der Erschöpfung.

Silke Behl:
Das haben Sie sehr charmant umschrieben. Es werden jetzt nicht alle, die uns zuhören, das 87. Sonett von Shakespeare kennen, aber es ist schon so, dass man heute ein bisschen ins Stocken kommt, wenn man das liest. Wenn dann dieser Wendepunkt kommt und klar wird, dass Sie zwar eigentlich über die Liebe schreiben, über eine Frau. Aber diese Frau ist eben auch die Frau Welt.
Das ist, glaube ich, ein sehr typisches Beispiel, wie Sie mit Sonetten von Shakespeare umgehen, die ja für Sie ganz maßgeblich gewesen sind, immer auch für ihre Schreibarbeit.

Wilhelm Bartsch:
Und es geht um die Eigentumsfrage und darum, ob Menschen überhaupt Eigentum sein können. Und so weiter. Dieses Gedicht ist ja in juristischer Sprache geschrieben von Shakespeare. Es geht also um Modalitäten, wie man mit Eigentum umgeht. So jedenfalls, wie wir mit Frau Welt umgegangen sind - die ja selber eine große Metapher im Mittelalter war - so geht das nicht weiter. 
Aber das ist nur die eine Schiene, mit dem dort Gedichte in die, wenn man es so nennen will, in die Versgleise gesetzt werden. Die andere Geliebte in dem Band ist nicht die geschändete, sondern es ist die, mit der ich hoffe in Augenhöhe mein Leben zu fristen. Die gibt es ja auch wirklich. Ohne diese Frau, ohne meine Frauke, so heißt sie, würde der Band diese Form überhaupt nicht angenommen haben.
Wer weiß, was daraus anderes Schönes geworden wäre. Aber es wäre noch lange nicht so was Schönes daraus geworden. Weil das ist… wie soll ich sagen…das hat nichts mehr mit Ornithologie zu tun, sondern hier singt quasi der Vogel selber.

Silke Behl:
Das ist wunderbar und ich weiß nicht, ob ich es erzählen darf? Dass Sie gut miteinander durchs Leben gehen, konnten Sie heute bei der Anreise nach Bremen erfahren, als Sie nämlich mit einem Motorschaden - Ihre Frau saß am Steuer - 40 Kilometer auf der Standspur nach Bremen gekrochen sind, aber trotzdem gut ankamen. Auch ein schönes Bild.

Wilhelm Bartsch:
Ja, man sieht mal wieder, wer meistens Kapitän an Bord ist. 

Silke Behl:
Bleiben wir noch im Moment auf der hohen See. Das hat ja auch mehrere Dimensionen. Die hohe See ist eigentlich ein herrschaftsfreier Raum. Sollte sie zumindest sein. Und ich weiß nicht, ob Sie diese Geschichte kennen: Elisabeth Mann Borghese, die Tochter von Thomas Mann, die war ja Seerechtlerin und sie hat dafür gesorgt, dass das festgeschrieben wurde. Also außerhalb der 12-Meilen-Zonen, die es ja überall auf der Welt, gehört die See niemandem, keiner Nation und auch nicht dem reichsten Menschen der Welt.

Wilhelm Bartsch:
Ja, das ist schon richtig, obwohl es ja diesen Müll, diesen Müllstrudel mitten im Pazifik gibt, der fast die Größe Australiens hat. Aber davon mal abgesehen.

Silke Behl:
Den will keiner haben.

Wilhelm Bartsch:
Naja, man ist dabei, den vielleicht auch zu ernten und dort wegzunehmen. Aber darum geht es gar nicht. Der Begriff der hohen See könnte auch für alles stehen, was Natur ist und wo wir einfach nur Teil von sind und das wir nie beherrschen werden. Jedenfalls nicht so, wie wir uns das gedacht haben.
Ich habe ja auch ein Gedicht zu Robinson Jeffers, der am Pazifik eine Burg und einen Turm gebaut hat. Von ihm gibt es auch ein berühmtes Gedicht zur Natur. Wenn die ein Auge hätte, dann wäre es der Pazifik und das ist so ein riesiges Auge, das alles, was am Rand dieses Auges dann an Geschichte und Politik passiert, nichts ist gegen das, was die Natur selber sehen kann, wenn sie da hoch ins Weltall blickt.
Also das ist eine hohe See, wie sie Robinson Jeffers sah, der in Amerika nicht gut weggekommen ist bei seinen Kollegen, aber bei mir umso besser. Das beeindruckt mich, was er in der Richtung zu sagen hat.

Silke Behl:
Nun macht die Hohe See uns deutlich, wie hilflos und klein der Mensch ist, wie sehr er auch von der Natur abhängig ist, egal wie er sie malträtiert. Die Natur wird immer siegen. Das ist, glaube ich, mittlerweile auch allen klar geworden, dass das Anthropozän möglicherweise zu Ende geht. Das lese ich aus Ihrem Buch und deswegen empfehle ich es auch, gerade auch in dieser Form des Sonetts, ganz ausdrücklich jungen Lesern, die vielleicht noch nicht so den Zugang zur Lyrik gefunden haben.
Es ist so eine schöne Irrfahrt, kann man eigentlich sagen, durch die menschlichen Schwächen. Durch das, was wir alles kaputt gemacht haben. Die andere Seite wäre so etwas wie ein planetarisches Bewusstsein. Davon lese ich letzter Zeit häufiger, dass sich der Mensch als ein Teil der Natur empfinden soll und nicht als Beherrscher.

Wilhelm Bartsch:
Ja, na klar. Und so endet ja das 87. Sonett. Dass wir uns als Könige gefühlt haben. Und wir wachen auf und sind eigentlich nur Schmarotzer. Jedenfalls in meinem Sonett. Die Form des Sonetts, die hat sich mir durch Shakespeare dargeboten. Sie zu nutzen in verschiedener Hinsicht. Zur Hälfte besteht dieser Gedichtband ja aus Sonetten. Es ist die Form für mich, mit der ich das, was ich zu sagen habe, überhaupt erst erlöse.
Man muss da wirklich auch mit arbeiten und sich treiben lassen. Sich auf die hohe See, also diese Form, begeben, um dann irgendwann zu merken, das ist jetzt hier was geworden. Es ist nicht alles geglückt. Und das ist eben die poetische Arbeit, die drinsteckt. Indem man eine so strenge Form nimmt, gewinnt man Freiheitsgrade, die man, wenn man da schlaffer rangehen würde, gar nicht gewinnen würde.
Das macht diese Form des Sonetts, also in dem Fall dieses Shakespeare Sonett, für mich so wichtig. Ich bin ja nicht der Einzige, der die Sonett-Form benutzt. Von meinen Zeitgenossen würde ich Thomas Kunst nennen, dann natürlich italienische Sonette und Inger Christensen.

Silke Behl:
Die dänische Dichterin. Das sind wunderbare Gedichte.

Wilhelm Bartsch:
Ihr Schmetterlingstal. Das ist für mich das bedeutendste große Gedicht der Moderne. Und auch Marion Poschmann in Nimbus. Sie hat ja hier 2021 den Bremer Literaturpreis zu Recht bekommen hat für diesen gigantischen Gedichtband ‚Nimbus‘ dort ein Sonetten Kranz drin zur großen nordischen Expedition von Gmelin in Sibirien. Sie hat praktisch eine Weltreise gemacht, andersrum über Land, während ich doch mehr über See gehe.
Und das war ein wichtiges Buch für mich von Marion Poschmann.

Silke Behl:
Das ist jetzt interessant. Inger Christensen und Marion Poschmann sind auch Autorinnen, die sich sehr viel mit den Fragen der Natur und der Naturzerstörung auseinandergesetzt haben. Aber es waren ja nicht die ersten. In Ihrem Buch geht es auch um Tiefenschürfungen von den nordischen Mythen über Shakespeare, Novalis, Hölderlin, Goethe bis hin zu Basso, dem japanischen Dichter, und eben zu Wolfgang Hilbig. Dichter aller Zeiten und die Mythen aller Zeitenhaben immer auf diesen Zusammenhang hingewiesen.
Wir tun heutzutage so, als ob wir als Erste erfunden haben, dass man doch bitte vorsichtig mit der Natur umgehen sollte.

Wilhelm Bartsch:
Und nicht zu vergessen im Band, den heiligen Brendan. Brendan, der Seefahrer, der eines der beliebtesten Bücher des Mittelalters geschrieben hat. Die Seefahrt Brendans eben. Die Iren behaupten ja bis heute, wahrscheinlich zu Recht, dass Brendan im sechsten Jahrhundert als erster amerikanischen Boden und die Antillen betreten hat. Seinen Büchern kann man also in ein paar Kapitel entnehmen, wo es Tatsache danach auch aussieht.
Und dieser Brendan, der geistert durch meinen Band auch mit hindurch, weil mir das gefällt, dass der mit seinen Mönchen in so einem Boot aus Ochsenhäuten, und mit Teer abgedichtet, den Atlantik überquert und ansonsten auch ziemlich viel herumirrt und immer selige Inseln finden möchte. Das Tolle an Brendans Reise finde ich: Er ist von Gott im Himmel verurteilt worden, weil er ein Buch, das Engel geschrieben haben über bestimmte Gefilde nicht geglaubt hat und es vernichtete. Also musste er selber losfahren und das Buch noch mal neu schreiben. Deswegen ist der Brendan für mich so wichtig in dem Band.

Silke Behl:
Auch so eine tolle Geschichte. Ich glaube, es ist auch wichtig, dass wir uns klarmachen: wir sind ja nicht die erste Generation auf diesem Globus. Alles ist in uns eingeschrieben. Erfahrungen von Generationen, die schon lange, lange nicht mehr leben. Wissenschaftler heute können nachweisen, dass zumindest über drei, vier Generationen Erfahrung, auch gesellschaftliche Erfahrung, sozusagen gespeichert wird.

Wilhelm Bartsch:
Ja, das bricht ja leider immer mal ab. Jetzt sind wir wieder im 19. Jahrhundert. Morgen, am 20. Januar, ausgerechnet, wenn ich meine Dankesrede halte, kommt (in den USA) jemand dran, von dem wir das Beste hoffen, dass er mit dem anderen Erzbösewicht, sage ich mal, ausgerechnet einen Frieden herstellt. 
Aber nichtsdestotrotz, in der Lyrik ist das wieder was anderes.
In der Literatur und in den Künsten, da ist alles, was irgendwann mal gut war und sich als lebendig erwiesen hat, auch gegenwärtig. Also Shakespeare ist, wie man dann so schön sagt, eben nicht tot. Ist er ja auch nicht. Mein Umgang mit solchen Figuren, mit Homer, Odysseus ist eben gegenwärtig. Und so funktioniert Lyrik nicht zeitgenössisch.

Silke Behl:
So ist es also. Man bewegt sich in Ihrem Buch auch in einem Meer von Stimmen. Das finde ich das Tolle. Es gibt ein Zitat, da muss ich direkt mal einmal kurz blättern… was ich so wichtig fand. Sekunde mal! … Genau, da sagen Sie „ ich höre diese vielen Stimmen, weil ich ja diese Rinder kreuzte“
Das würde ich mir gern von Ihnen ein bisschen erklären lassen.

Wilhelm Bartsch:
Ich habe mal den Beruf eines Rinderzüchter erlernt. Also ich habe mein Abitur gemacht und gleichzeitig einen Facharbeiterbrief als Rinderzüchter. So was gab es in der DDR. Also Gregor Gysi war zum Beispiel Rinderzüchter und verschiedene andere, die man als Politiker hochtrabend begriff. Aber auf jeden Fall war ich Cowboy. Wenn man so will: Ost Cowboy. In der Zeit, als ich diesen Beruf erlernte, das war ja so Ende 60er Jahre, zwischen 65 und 69, wurden in die DDR, um die Milchproduktion zu steigern, Josie-Rinder eingekreuzt.
Ich war grad mit dieser Art Rindern beschäftigt, an denen man dann sah, dass das so nicht ganz klappt. Die hatten alle ein bisschen eine Macke und waren unterschiedlich groß und sahen unterschiedlich aus. Also da kam auf einmal das sehr viel Milch gebende Josie-Rind rein und hat zumindest in der Zucht, wo ich mit drin war, viel Ergebnisse gebracht, die nicht so waren, wie sie es sich vorgestellt haben.

Silke Behl:
Aber jetzt brauche ich den Zusammenhang. „Ich hör die Stimmen, weil ich Josie Rinder züchtete“. Meine Phantasie dazu war, dass sie, wie ja übrigens sehr viele Autoren aus der DDR einfach anders geerdet sind dadurch, dass man einfach einen viel geerdeteren Beruf hatte. Wolfgang Hilbig war Heizer. Sie sagten, Gysi war auch Rinderzüchter. 
Die meisten haben ja was Handfestes gelernt und sind nicht aus einer rein intellektuellen Blase gekommen.

Wilhelm Bartsch:
Das muss nicht unbedingt sein. Immanuel Kant ist auch nicht aus Königsberg rausgekommen und war Weltbürger. Nein, also die Josie-Rinder erwähne ich in einem Gedicht, was auch wieder mit Brendan zu tun hat und auf Achill Island in Irland spielt. Achill Island ist eine Rinderzüchterinsel.
Es geht da also auch um alte Form von Rinderzucht, mit der ich mich da in Irland auch beschäftigt habe. Das hängt alles miteinander miteinander zusammen in dem Text.

Silke Behl:
Wenn Sie sich jetzt mit Sonetten auseinandersetzen oder Sie lesen. Hölderlin etwa. Ich stelle mir das so vor, dass das alles sozusagen in Ihnen auch nachklingt, dass Sie das mit durchs Leben nehmen. Alles, was Sie gelesen haben. Gibt es so eine Erfahrung, wie Sie anfangs beschrieben haben in Bezug auf das Sonett 87, wo Sie merken, jetzt kommt da was in Bewegung in mir und jetzt feuern die Synapsen, die poetische Zündschnur ist gezündet.

Wilhelm Bartsch:
Im 87. war es auf jeden Fall so, das war ganz wichtig für eine bestimmte Grundsatzentscheidung zu diesem Band. Aber es ist doch nicht so, dass ich immer mit diesen Shakespeare Sonetten umgegangen bin. Das kam erst in den letzten Jahren wieder, weil ich mich dann auf einmal auch mal in die Richtung bewegen wollte. Weil ich vorher selten Liebesgedichte geschrieben habe und es war jetzt sowieso mal nötig.
Aber an die Shakespeare Sonette bin ich vor allen Dingen in der DDR noch über das 66. Shakespeares Sonett gekommen, was viele Autoren in der Bundesrepublik und in der DDR nachgedichtet haben. Ich auch damals. Was so ein bisschen mit dem ganz verkehrten Leben in der elisabethanischen Gesellschaft abrechnete. Das war ein gefundenes Fressen, wo man viel abladen konnte, was ja auch heute noch gilt.

Silke Behl:
Weil alles auf ganz kleiner Fläche stattfinden musste im elisabethanischen Theater. 
Ich wollte noch mal auf die Form direkt zu sprechen kommen. Das ist Verdichtung. Es ist ein hoher Anspruch. Also diese 14 Zeilen, wie müssen wir uns den Arbeitsprozess vorstellen, bis das stimmt, bis Sie zufrieden sind.

Wilhelm Bartsch:
Dazu kann ich höchstens zu jedem einzelnen Gedicht etwas sagen. Und auch da ändere ich meine Meinung von Begegnung zu Begegnung mit diesen Texten. Das heißt, das Volk ist irgendwie noch in Bewegung und lebendig. Und solange das so ist, finde ich es auch in Ordnung. Und so ganz streng halte ich diese Form ja auch nicht ein. Ich lasse manchmal auch was gelten, was die Form am Ende zumindest oder scheinbar überhaupt nicht einhält.
Also ich habe zum Beispiel zwei Sonette dabei, wo das eine nur drei Zeilen hat. Ansonsten sind lauter Punkte. Das andere hat fünf Zeilen, glaube ich. Es gibt Sonette, die reimen sich nicht. Es gibt Sonette, da stehen die Reime anders. Aber es stimmt schon, die meisten der Sonette sind so durchgeführt, wie es praktisch sein muss und wie es auch Shakespeare dann gemacht hat.
Ich habe auch eine ganze Reihe anderer Shakespeare Sonette geschrieben, die eigentlich so ganz gelungen geklungen haben. Aber irgendwas stimmte mit denen nicht. Die habe ich rausgelassen oder die habe ich dann nicht weiter ausgearbeitet. Also Sie sehen ja jetzt immer nur die, die in dem Band „Hohe See und niemands Land“ enthalten sind. Nicht die, die missglückt sind.

Silke Behl:
Die sind im Papierkorb gelandet?

Wilhelm Bartsch:
Nein, die sind ja, na, die sind im Papierkorb gelandet oder sonstwie entsorgt, nicht mehr auffindbar. Das kommt alles vor.

Silke Behl:
Wann sind Sie zufrieden? Wann sind Sie glücklich? Wenn so ein Sonett ja auf dem Tisch liegt und Sie sagen Ja, jetzt schließe ich das ab.

Wilhelm Bartsch:
Das kann man gar nicht so sagen. Also ich habe oft das Gefühl, jetzt heißt es, jetzt haste das erreicht. Ich bin ja nicht der Alleinbesitzer der Sprache – durch die Sonett-Form zum Beispiel merkt man dann, dass Sprache über einem ist und auf einmal erzählt einem die Sprache was.
Und so entstehen auch diese Sonette. Und da habe ich oft den Punkt, wo ich sehr zufrieden bin und denke: das ist es. Und nach ein paar Tagen oder paar Wochen merke ich: Nein, hier stimmt was nicht und ich kann da nur am besten antworten mit dem, was Octavio Paz, der mexikanische Dichter, einmal gesagt hat.
Dem hat man dieselbe Frage gestellt. Ein Gedicht ist für mich zu Ende, wenn ich beschlossen habe: Jetzt ist hier aber Schluss. So ähnlich muss man das bei mir auch sehen. Also in dem Band „Hohe See und niemands Land“ stehen bestimmt auch Texte, da würde ich wahrscheinlich keinen Punkt mehr ändern wollen, weil es sich mir bisher nicht so dargetan hat, dass ich das tun müsste.
Aber so Aber im Großen und Ganzen rumort das immer alles noch und so muss es auch sein. So bleibt es für mich noch ein Material, mit dem ich immer wieder doch zu tun kriege. Also das heißt zum Beispiel: Wenn ich jetzt hier in Bremen bin und heute Abend die Lesung mache oder so was, begegne ich meinen eigenen Sachen immer wieder neu.
Und solange das so ist, will ich wirklich sehr zufrieden sein.

Silke Behl:
Ganz wichtig finde ich einen Satz, den Sie eben gesagt haben: Ich bin zufrieden, wenn ich merke, dass die Sprache was erzählt. Das ist ja überhaupt das Wesentliche in der Literatur, dass man mit diesem Instrument Sprache so umgehen kann, dass sie etwas ausdrückt, was man nicht nacherzählen kann.

Wilhelm Bartsch:
Ja, aber nicht immer die reine Sprache. Ich sprach ja extra von Stimmen, also von dem, was Menschen sagen oder was Menschen aufschreiben. Mit diesen Stimmen kriegt man zu tun, wenn man hartnäckig an ein und demselben Stoff bleibt. Dann treten die Stimmen, die man sonst nicht hört, auf einmal auf und werden wichtig. Wie bei Yves Bonnefoy, einem der großen französischen Dichter. Der war schon über 90, als er Sonette schrieb und war ganz begeistert, dass er dieses Abenteuer noch mal gewagt hat. Und dieser ganze Zyklus, den er da geschrieben hat, der heißt „streichelnd schreiben“.

Silke Behl:
Ja, Verdichtung ist auch Essenz. Eigentlich. Es geht darum, auf etwas sehr Essentielles zu kommen.

Wilhelm Bartsch:
Das Verdichtete ist ja nur äußerlich. Für sich muss das Zeug luzide und fluid bleiben. Es muss flüssig bleiben, es muss lebendig bleiben und da kann es nicht immer dieselbe Gestalt annehmen. Das macht das Leben auch nicht. Aber irgendwann muss eben mal gut sein und dann muss die Form stehen bleiben, wie sie gerade in dem Sonett geworden ist.
Und da dürfen, wenn es ansonsten funktioniert, auch Stellen drin sein, die nicht so gelungen sind. Das darf sein.

Silke Behl:
Sie haben die Arbeit damit, wir haben das Lesevergnügen, muss ich wirklich sagen. Und man kann diesen Band auch lesen - wie alle ihre Gedichte - ohne dass man so hochgebildet unterwegs ist und all die Autoren, die da zitiert werden, kennt. Man kann Zitate wiedererkennen, aber das muss nicht sein. Man kann sich wirklich tragen lassen von diesen Texten.
Sie arbeiten ja auch viel mit Jugendlichen, oder haben viel mit Jugendlichen gearbeitet.
Sie haben Kontakt mit Menschen, darauf möchte ich hinaus. Die keine geübten Leser sind, keine Literaturkritiker.

Wilhelm Bartsch:
Ich habe 25 Jahre lang auch praktisch die Literaturwerkstatt in Sachsen-Anhalt Süd in Halle geleitet. Zum Beispiel habe ich viel mit Nachwuchs gearbeitet, aber ich sage lieber mit Schreibinteressierten. Also auch mit solchen, die nun nicht gleich Schriftsteller werden wollten und da ging es nicht immer nur um die Krone des Ganzen. Aber ich bin froh, dass ich auch Gäste in der Werkstatt hatte, aus denen was geworden ist.
Juliane Liebert in Berlin zum Beispiel, eine Diva, die war eine treue Seele bei mir. Bis sie dann nach Berlin ausgerückt ist.

Silke Behl:
Und eine erfolgreiche Autorin geworden ist. Ist es eine blöde Frage am Ende, wenn ich Sie bitte, uns vielleicht zu sagen, was für Leser Sie sich wünschen oder wie dieses Buch gelesen werden sollte, damit man sich eben auch wirklich tragen lassen kann.

Wilhelm Bartsch:
Sie haben es eigentlich selber schon ganz gut erkannt und ausgedrückt. Man soll sich nicht schrecken lassen von den vielen Namen. Ist ja auch ein gigantischer Anmerkungsapparat hintendran für die, die noch weitergehen wollen. Und der ist ja auch für sich ganz interessant. Man darf sich auch nicht von dem verschrecken lassen, was man vielleicht auf den ersten Blick nicht versteht.
Darum geht es gar nicht. Es ist deswegen ein durchkomponierter Band und mit der Hauptform des Sonetts, weil wir Deutschen ja eine Sprache haben, die eine Sprache des Meeres ist. Deswegen soll man sich ruhig in diese Wogen reinwerfen und versuchen, nicht unterzugehen. Man geht aber auch nicht unter, jeder findet seinen sein Teil darin. Also zumindest diejenigen, die Bücher lesen und darunter auch Gedichte.

Silke Behl:
Da bin ich mir inzwischen sehr sicher, dass das so ist.
Wir lassen uns tragen, sehr gerne auf der Sprache des Meeres und von Ihnen durch den Band „Hohe See und niemands Land“. Vielen herzlichen Dank, dass Sie bei uns waren, Wilhelm Bartsch, dass Sie die Aufnahme für den Literaturpodcast im Literaturhaus ermöglicht haben.

Wilhelm Bartsch:
Ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich. Es war sehr schön und wir sehen uns ja dann heute Abend. Und darauf freue ich mich. Danke schön.

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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.