#104 Annette Kehnel: "Die Moderne hat das Erfahrungswissen des Westens über Bord geworfen." [27:56]

09. Januar 2025

Annette Kehnel
© Anna Logue

Annette Kehnel kennt sich als Historikerin mit den Krisen der Menschheit gut aus. Aber mit den vielen Problemen, mit denen sich Menschen seit Jahrtausenden herumschlagen, entstanden auch viele Lösungen. In ihrem Buch Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit zeigt die Historikerin, wie nachhaltig frühere Gesellschaften gelebt haben – und wie wir ihr Wissen ins heute übertragen. Mit Die sieben Todsünden. Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise geht es ihr jetzt um eine Lehre, die, so sagt sie, gleich die Grundbedingungen des Menschseins abdecken. Warum die Todsündenlehre unser ganzes Leben betrifft, wie sie uns noch heute helfen kann und warum wir dafür gar nicht gläubig sein müssen, darüber hat Annette Kehnel mit Jonas Dahm gesprochen.

Zum Nachlesen

Jonas Dahm: 
Herzlich willkommen zum Literaturhaus Podcast Bremen. Annette Kehnel ist Historikerin, hat den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim inne, schreibt aber auch Bücher, die man außerhalb des Hörsaals gut lesen kann. 2021 erschien “Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit” und letztes Jahr, 2024 ist “Die sieben Todsünden. Menschheitswissen für das Zeitalter der Krisen” erschienen. Unser Monatsthema hier im Podcast sind ja die Krisen und ich könnte mir eigentlich niemanden besseren vorstellen, um über dieses Thema zu reden als Annette Kehnel, die mir jetzt glücklicherweise gegenüber sitzt. Vielen Dank, dass sie da sind.

Annette Kehnel: 
Ja, vielen Dank für die Einladung.

Jonas Dahm: 
Sie hatten mir netterweise eine E-Mail geschrieben vorher und mich gefragt, welche Todsünde mich denn am meisten interessiert und da dachte ich, na ja, wir kommen jetzt gerade aus Weihnachten und Silvester und zumindest mir persönlich geht es so, dass mir die Völlerei wohl am nächsten liegt gerade. Wie könnte mir denn jetzt die Geschichte und der Blick in die Geschichte helfen damit umzugehen, mich vielleicht weniger vollzuschlagen wie es dieses Jahr getan habe?

Annette Kehnel: 
War’s arg schlimm?

Jonas Dahm: 
Ach, es war schon ein bisschen schlimm, ja.

Annette Kehnel: 
War schon ein bisschen schlimm… Also, mir macht Essen Spaß und ich würde auch sagen, dass aus der Geschichte des Umgangs mit der menschlichen Fähigkeit zu essen und auch mehr zu essen, als es jetzt braucht um den Kalorienbedarf zu decken, da ist eine ganz wichtige Message: Schlemmen ist erlaubt. Aber entscheidend sind Rhythmen und entscheidend ist Abwechslung. Also der Wechsel zwischen feiern und dann auch wieder mal ein bisschen darben - also Intervallfasten, das machen ja viele Menschen heute. Das ist im Grunde genau das, was letztlich auch als Erfahrungswissen in vielen Kulturen verankert ist, dass du Abwechslung brauchst. Einmal ganz viel essen und dann wieder ganz wenig essen. Dann ist das kein Problem. Also, von daher, die Todsünde der Völlerei ist nicht, dass wir uns mal zwischendurch auch richtig den Bauch vollhauen, sondern die Todsünde besteht darin, dass wir dieses Überfressen zur Normalität erklärt haben.

Jonas Dahm: 
Die sieben Todsünden, ich musste das nochmal googeln, das ist: Neid, Völlerei, Habgier, Wollust, Zorn, Hochmut und Trägheit. Und sie schreiben diese Sünden, die decken so etwas ab wie die Grundbedingungen unserer menschlichen Existenz. Können sie einmal erklären, was sie damit meinen?

Annette Kehnel: 
Na ja, wenn Sie möchten, können Sie das sehr gut mit der Bedürfnispyramide erklären, die gewissermaßen davon ausgeht, dass es Grundbedürfnisse gibt, wie das Bedürfnis nach Nahrung. Da wäre ja die Kehrseite, oder das Negative, die Übererfüllung dieses Bedürfnisses: Völlerei. Und das Bedürfnis nach Sicherheit, das ist sicherlich auch ein sehr legitim Bedürfnis, die Übererfüllung wäre aber die Habgier, die Vorratshaltung. Ja, und dann das Bedürfnis nach Anerkennung, da brauchen wir jeder soziale Stabilität, wunderbar, brauchen wir, ist sehr gesund. Die Übererfüllung dieses Bedürfnisses nach Anerkennung ist der Neid, die Invidia. Ja, und deswegen würde ich sagen, die Todsündenlehre der klassischen Antike und dann eben des christlichen Abendlandes, die verhandelt diese problematischen Kehrseiten von im Grunde sehr guten und wichtigen Fähigkeiten, nämlich die Deckung von Grundbedürfnissen und dann auch darüber hinausgehenden Bedürfnissen.

Jonas Dahm: 
Woher kommt denn diese Vorstellung der Sünde und der Todsünde. Sie sprechen an ihrem Buch von einem Störgefühl.

Annette Kehnel: 
Ja, das hat mich selber sehr überrascht. Also Sünde, kann man sagen, ist eine relative junge Erfindung in der Geschichte der Menschheit, aber sie ist sehr viel älter als das Christentum. Es gibt dieses Bewusstsein für diese Störung schon ganz, ganz lange. Der Hinduismus ist eigentlich die Religion in der die Seelenwanderung, die Vorstellung der Seelenwanderung schon sehr früh zum Ausdruck gebracht wurde. Die Idee ist, dass ich nach meinem Tod, also meine Seele nach meinem Tod wiedergutmachen muss, was sie zu Lebzeiten zerstört hat, oder an Schädlichem und an Destruktivem verursacht hat. Schriftliche Zeugnisse für dieses Denken findet sich auch im Westen, in der griechischen Philosophie des sechsten und fünften Jahrhunderts. Die sogenannten Orphiker, eine Religion, die sich nach dem Erfinder der Musik genannten hat: Orpheus in der Unterwelt. Er versucht seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt zu befreien. Sie verstarb nach einer grausamen Vergewaltigung und einem Schlangenbiss und er verliert sie und will sie wieder herausholen. Weil er Musiker ist, also ein sehr feinfühliger und sehr sensibler Mensch, hat er dann die Möglichkeit Eurydike aus der Unterwelt zu befreien, was sonst noch nie einem Menschen gelungen ist. Dann macht er aber den großen Fehler und wendet sich nachher um, kurz bevor er sie befreit hat - und das war die einzige Auflage, die ihm Hades gestellt hat: Er darf sich nicht umblicken, er darf nicht nach hinten blicken. Nach dieser misslungenen Rettung ist natürlich der Fehler, das Bewusstsein für die Schuld bei Orpheus unerträglich und in diesem Kontext ist gewissermaßen Sünde das Bewusstsein dafür, da ist was schiefgelaufen, eine Entfremdung von dem, wie das Leben eigentlich sein sollte. Dieses Störgefühl, dieses Bewusstsein der Entfremdung, mit dem versuche ich in meinem Buch Sünde ganz eng in Verbindung zu bringen. 

Jonas Dahm: 
Sie illustrieren das auch ganz wunderbar an Dantes Vorstellung des Infernos, an diesem Keil, der in die Erde getrieben ist und sie zeigen daran, dass es eigentlich da schon eine Vorstellung gab von einer Entfremdung von Natur und Mensch, also, dass wir eigentlich mit der Technik der Natur etwas antun und auch uns etwas antun und da eine Distanz schaffen. Das kommt auch öfter mal vor, das ist nicht nur bei Dante.

Annette Kehnel: 
Ja, das ist ganz faszinierend. Ich hatte das Privileg, darüber forschen zu dürfen und dieses Gefühl der Entfremdung von der Natur, das finden sie zum Beispiel auch bei in einer Bewegung der Manichäer, das war eine Religion, die um das Jahr 400 nach Christus – zum Beispiel auch der heilige Augustinus, hat dieser Gruppe zugehört – und da geht es ganz stark darum, das Nicht-verletzen der Natur. Im Grunde war es das, was wir heute Frutarier nennen. Schon allein das Köpfen eines Salatkopfes wurde als ein gewaltsamer Akt verstanden. Und die Zurückhaltung gegenüber der Natur wurde gepredigt, wir dürfen die Natur nicht verletzen, wir dürfen Bäume nicht fällen, wir dürfen nicht gewaltsam eingreifen in die Natur. Und diese Gedanken so früh zu entdecken, lange vor der Erfindung moderner Technologien, das war eine große Überraschung, weil eben da auch die Vorstellung der Notwendigkeit des Erhaltes des Gleichgewichtes sehr deutlich wird. Menschen können viel mehr als das, was vielleicht gut für sie ist, nämlich zum Beispiel die Umweltzerstörung. Und bei Dante ist das natürlich ganz, ganz wunderbar. Also der Höllenkrater ist ja im Grunde ein Trichter, der in die Erde hinein getrieben ist. Schon das eine gewaltsame Vorstellung. Und dann eben diese zerstörte Natur und die zerstörten oder in die Irre gelaufenen Menschen, die aber dann im Purgatorium auch ihre Möglichkeit der Wiederherstellung, der Reinigung finden. Das ist, glaube ich, einer der entscheidenden Punkte. Also die Höllenqualen einerseits und dann aber auch die Möglichkeit der Wiedergutmachung durch das, was die Kirche dann Buße nannte oder Umkehr. Ich glaube, das ist ein sehr unterschätztes Konzept. Metanoia ist ein Begriff, den wir jetzt auch wieder mehr finden, die Fähigkeit umzudenken. Umparken im Kopf, könnte man es auch sagen, und im Körper, ganz, ganz wichtig, weil Gewohnheiten, das wissen wir alle, die rühren ganz oft von falschen Routinen her. Also ‘Atomic Habits’ sind so ein Schlagwort. Kleinste, auch körperliche Umstellungen fallen uns dann leichter, wenn wir Dinge im Kleinen ändern.

Jonas Dahm: 
Dieses Umdenken, das suchen Sie ja eben gerade nicht, so wie es gerade auch so ein bisschen Mode ist, auch in der Wissenschaft, bei indigenen Völkern, vielleicht in Südamerika. Sondern Sie schauen explizit in den Westen, um dieses Wissen wiederzuentdecken. Wieso machen Sie diese Unterscheidung und warum gerade dieser Fokus auf westliches Wissen?

Annette Kehnel: 
Ja, vielen Dank für diese Frage. Also, ich glaube, wir tun gut daran, im Grunde nach Erfahrungswissen und den Erfahrungsschätzen anderer Kulturen zu fragen, weil wir gemerkt haben, wir sind mit unserer eigenen Denke, mit diesem westlichen Denken auch, und der Fixierung auf Wachstum und auf immerwährendes Wachstum sehr an unsere Grenzen gekommen. Warum ich mich trotzdem auf die Erfahrungsschätze des Westens konzentriere, liegt daran, dass ich genau mit der Absicht, traditionelles Wissen bei indigenen Völkern zu finden, ja, letztlich auf mich selber zurückgeworfen wurde. Ich habe in Vancouver im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen, und auch mit Vertreterinnen der indigenen Völker, der First Nations, wie sie dort genannt werden, geredet und versucht, mehr über ihr Wissen zu erfahren. Das war an der University of British Columbia und in den Diskussionen, die wirklich sehr, sehr spannend waren – da ging es um Kulturen des Essens, des Kochens, aber auch des Umgangs mit der Natur – fragte dann eine der Vertreterinnen: warum wollt ihr eigentlich unser indigenes Wissen? Jetzt habt ihr schon unsere Kultur zerstört, ihr habt uns unsere Sprache genommen, ihr habt uns unsere Kinder genommen und in Residential Schools gesteckt – und jetzt wollt ihr auch noch unser Traditional Knowledge? Und dann eben die Frage: habt ihr eigentlich selber kein traditionelles Wissen? Das war wirklich ein Paradigmenwechsel für mich in dem Ansatz, den ich bis dahin verfolgt habe, weil, ich war erstmal sehr vor den Kopf geschlagen und fast ein bisschen beleidigt war. Ich habe gedacht, jetzt interessiere ich mich schon für euch und ihr sagt mir, das braucht es gar nicht. Aber sie hatte recht. Also, das war wirklich ein absolut spannender und für mich auch entscheidender Impuls. Und hat mich dazu veranlasst zu sagen, okay, ich nehme sie ernst, diese Anregung, und habe darauf mein Interesse für diese T odsünden-Lehre unter dem Gesichtspunkt Erfahrungswissen in der Tradition des Westens bearbeitet. Und ich bin bis heute sehr, sehr dankbar für diese Anregung der Kolleginnen und Kollegen in Vancouver.

Jonas Dahm: 
Ja, auch als Leser ist man sehr, sehr dankbar, weil sie wirklich verschiedene Umgangsformen in der Geschichte, mit Sachen, die sehr, sehr aktuell sind. Denn sie haben ein Kapitel, das heißt, es ist Wolllust und bei ihnen heißt das Luxus, Luxuria. Und sie fassen das als betrunkener Durst. Das finde ich eine sehr, sehr schöne Begrifflichkeit, weil man sich natürlich fragen kann: Ja, Luxus ist ja erstmal total schön, also wo ist denn eigentlich das Problem? Aber genau das erklären sie da. Und sie sagen auch, man braucht eigentlich schon Verschwendung, man braucht eine edle Verschwendung. Was ist denn eine edle Verschwendung?

Annette Kehnel: 
Ja, das ist eigentlich ein sehr schöner Begriff, der stammt von Marcel Maus. Die Kunst der edlen Verschwendung, also Luxuria. Vielleicht kurz um zu rekapitulieren: Luxuria wird im Deutschen ja mit Wolllust vor allem übersetzt und bezieht sich vor allem auf Sex und auf Körperlichkeit. Aber in der ‘longue durée’ kann man zeigen, es geht um ein konsumtives Verhältnis zu anderen und auch zu anderen Objekten. Auch übrigens zur Natur. Ja, diese Einstellung eines instrumentellen Verhältnisses zum Anderen, also der Gebrauch des anderen Menschen, des anderen Körpers wäre Sex. Aber auch der Gebrauch von Objekten zur eigenen Lustbefriedigung, das kann genauso gut Schoppen sein oder eben hemmungsloses Konsumieren von Wald, einfach abholzen oder so. So, deswegen eine erweiterte Definition von Luxuria als konsumtives Verhältnis zu unserer Umwelt oder Mitwelt. Getrunkener Durst ist ein Begriff – Ebrietas – der im Lateinischen gerne verwendet wird. Und der tut uns eben nicht gut. Der macht Menschen krank zum einen und vor allem raubt er Lebenslust, weil die Lebenslust dann eben immer verbunden wird mit etwas haben und etwas kriegen und noch etwas bekommen und noch mehr wollen. Und diese Krankheit ist letztlich das Gefühl der Entfremdung. Ich brauche dann immer noch wieder was, um glücklich zu sein. Die Mediziner erklären das vor allem mit Dopamin-Ausstößen in unserem Gehirn, also jeder Kauf, Belohnungs-Käufe und so weiter sorgen dafür, dass Dopamin in unseren Gehirnzellen ausgestoßen wird. Und die wiederum erzeugen so dieses Glücksgefühl, aber wenn das Dopamin dann wieder weg ist, dann entschwindet eben auch wieder dieser Moment der Erfüllung. Das merken wir dann so, wenn wir zu Hause sind. Wie befriedigen wir dieses Bedürfnis, wie können wir diese Dopamin-Stöße, die uns ja beim Einkaufen auch so wichtig sind oder bei diesem getrunkenen Durst so wichtig sind? Da gibt es andere Methoden, die zu erzeugen oder vielleicht auch auf einem gesunden Niveau zu halten. Da ist die Freigebigkeit in der Geschichte, ganz, ganz wichtig. Die oberste Tugend, nicht nur der Herrscher, aber vor allem der Herrscher war Freigebigkeit. Das Abgeben von dem, was wir haben. In England, in Westminster zum Beispiel, war eine der wichtigsten Funktionen der Main Hall im Palast die Speisung der Armen - und zwar regelmäßig. Und zwar nicht irgendwo weg in irgendeinem Flüchtlingsheim, sondern nein, im Palast hatte der König die Pflicht, regelmäßig die Armen zu speisen. Sie müssen sich das mal vorstellen, also man denkt sich so, Christian Lindner lädt zu seiner Hochzeit auf Sylt dann noch 2000 Arme ein, die er daneben speist. So muss man sich das vorstellen. Und diese Freigebigkeit ist gewissermaßen die Entlastung oder die Form auch des Glücks, die dadurch erzeugt wird: Ich habe viel und ich habe auch ein Recht viel zu haben, aber ich gebe davon immer wieder auch was ab. Und das finde ich ein sehr, sehr wichtiges Moment, also Freigebigkeit für die, die viel haben. Es geht nicht darum, dass alle gleich sind und alle gleich gemacht werden. Aber die, die viel haben, haben eben auch die Pflicht und die Lust zur Freigiebigkeit.

Jonas Dahm: 
Ich würde gerne beim Thema bleiben und ein bisschen über die Habgier. Das fassen Sie unter dem Kapitel Besitz. Und da schreiben Sie, da gibt es jetzt seit der antiken Warnung vor der Habgier immer wieder verschiedene Geschichten. Wenn man jetzt in die Politik guckt, dann könnte man verschiedene Beispiele anbringen, warum man davon ausgehen könnte, dass diese Warnungen vielleicht nicht so sehr gefruchtet haben. Trump wurde gewählt, dann ist eigentlich einer seiner engsten Berater Elon Musk. Unabhängig davon, was man politisch davon denken sollte, aber die Habgier scheint da jetzt nicht unbedingt mehr verpönt zu sein. Könnte man dann sagen, na gut, das hat uns alles nicht geholfen? Haben diese ganzen Warnungen nicht gefruchtet?

Annette Kehnel: 
Ja, ganz im Gegenteil. Diese ganzen Warnungen wurden ja im Grunde seit dem Zeitalter der Aufklärung ganz massiv bekämpft. Also Habgier, immer mehr haben wollen, Profite machen, effizient sein, das wurde zur Tugend erklärt. Das ist, glaube ich, die entscheidende Wende. Die Moderne hat ja den Ballast des Erfahrungswissens des Westens eigentlich über Bord geworfen. Also Habgier – Avaritia – immer mehr haben wollen, Geschäfte machen, Profite schlagen, wird seit dem 17. Jahrhundert – da gibt es die sogenannte Bienenfabel von Bernard Mandeville, der beschreibt da im Grunde, was passiert mit einem Bienenstaat, wenn alle tugendhaft leben wollen. Also nicht habgierig sind, nicht wollüstig, nicht schlemmen wollen und so weiter. Dann geht der Staat zugrunde, dann werden die Richter arbeitslos, weil die niemanden mehr zu verurteilen haben. Oder die Anwälte oder auch die Henker werden dann arbeitslos, weil sie niemanden mehr köpfen können und die Konditoren werden arbeitslos und die Bäcker und die Ärzte, weil dann alle gesund sind und keiner sich überfrisst und so. Deswegen sagt Mandeville, das ist die Moral seiner Bienenfabel: Wenn wir tugendhaft leben, dann geht die Wirtschaft und der Staat zugrunde. Also verwandeln wir das, was unsere Vorfahren Laster nannten, jetzt in Tugenden. Und mit diesen Tugenden, nämlich des Eigennutzes, ist letztlich die Entwicklung des Kapitalismus und des Wirtschaftssystems, in dem wir seit ungefähr 200 Jahren leben, verknüpft. Und das hat natürlich mit dem Neoliberalismus seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts nochmal eine ganz neue Enthemmtheit erfahren. Also Elon Musk wäre so, auch in den 60er Jahren, nicht denkbar gewesen. Und schon gar nicht in vormodernen Gesellschaften. Diese Form des Reichtums einer Privatperson, die ist in keinem anderen Wirtschaftssystem denkbar als dem unseren.

Jonas Dahm: 
Also hat das Eigeninteresse eigentlich die anderen Tugenden überschrieben, könnte man das so fassen?

Annette Kehnel: 
Ja, das Eigeninteresse und vor allem der Eigennutz wird gewissermaßen zur Leitfigur, zur Leitung oder zum Leitlaster, je nachdem wie Sie wollen. Aber die Vorstellung ist eigentlich - da gibt es interessante Forschungen von Alfred Hirschmann, einem Ökonomen aus den 60er Jahren, der sagt, es geht eigentlich auch in der Aufklärung ja immer wieder darum, wie können wir die menschlichen Leidenschaften, also das wäre ein anderes Wort für Todsünden, wie können wir die befrieden? Und im 18. Jahrhundert wird gewissermaßen der Habgier die Rolle des unschuldigsten Lasters zugeteilt. Die Vorstellung ist, eigentlich richten die Menschen dann keinen Schaden ein, wenn sie so zu ihrem eigenen Nutzen arbeiten oder immer habgierig sind. Und dann werden alle anderen Leidenschaften gewissermaßen neutralisiert. So nach dem Motto: der Wirt hört auf zu trinken, wenn er merkt, dass er nüchtern bessere Geschäfte macht.

Jonas Dahm: 
Ich würde gerne noch auf eine Geschichte aus der Geschichte kommen. Und zwar beschreiben Sie, wie man in Florenz, ich glaube im 13. Jahrhundert, mit Lebensmittelspekulation umgegangen ist. Da hat man also ein Mittel gefunden, um das einzudämmen. Es ist ein recht drastisches Mittel und ich habe mich gefragt, kann man das denn nach heute noch übersetzen? Können wir daraus trotzdem eine Lehre ziehen, obwohl es doch recht brutal zuging damals?

Annette Kehnel: 
Ja, das war in Florenz im Jahr 1327, da war eine große Hungersnot. Schon im Vorjahr hatte sich die abgezeichnet und das Problem der Stadträte war damals: Okay, wir müssen dafür sorgen, dass die Preise einigermaßen stabil bleiben. Gleichzeitig hatten aber die Getreidehändler natürlich ein massives Interesse daran, Profite aus der Krise zu schlagen. Und dazu hat man, wie das logisch ist, einfach Vorräte zurückgehalten, weil man wusste, in zwei Wochen werden die Preise nochmal gestiegen sein und dann kann man mehr Profite damit machen. So, das war ein großes Problem, weil natürlich die Florentiner Stadträte daran kein Interesse haben. Was haben sie gemacht? Sie haben alle Getreidehändler unter dem Vorwand, wir brauchen euren Rat, in das Rathaus bestellt und danach haben sie die Türen abgeschlossen und dann haben sie mit sehr brutalen Mitteln versucht herauszufinden, wer wo Getreide heimlich gebunkert hat. Dazu wurde eben auch die sogenannte peinliche Befragung angewandt, also die, die weh tut. Also man hat dann einen Händler an den Füßen aufgehängt und geschlagen und dann zwar so, dass die anderen die Schreie hören, die dieser Mann ausstößt. Die Forderung war, er muss verraten, wo die Vorräte sind. So, also Anwendung von Folter, um im Grunde Wucher zu verhindern. Dafür kann heute keiner sein. Aber, glaube ich, schon ein sehr wichtiger Punkt ist, dass wir im Grunde die geltenden Gesetze, gegen Spekulationsgewinne, Spekulationsgewinne und so weiter, dass die richtig eingehalten werden. Und das ist oft schwer, das wissen wir, aber Sanktionen gegen gemeinschaftsgefährdende oder asoziale Wirtschaftspraktiken und Finanzpraktiken – die umzusetzen, ich glaube, das wäre auf jeden Fall das Gebot der Stunde. Letztlich dieser Hype um die Cum-Ex-Skandale etwa, da muss der Staat ganz klare Kante zeigen und eben auch Unternehmen dafür zur Rechenschaft ziehen und dann entsprechend zur Kasse bitten, wenn mit unlauteren Methoden Gewinne erzielt werden.

Jonas Dahm: 
Gegen Ende Ihres Buches ziehen Sie ja dann doch noch ein recht positives Fazit, oder Sie blicken eigentlich ganz positiv auf die Zukunft und Sie sagen: “Menschen können mehr als Eigennutz.” Können Sie diesen Optimismus einmal erklären, weil wenn man jetzt nach heute guckt, dann würde man ja denken, nun gut, wir haben uns sozusagen systematisch dem Eigennutz - sagen Sie ja auch - seit dem 18. Jahrhundert verschrieben. Wie kommen wir denn jetzt dahin, dass wir eben mehr können? Wo kommt dieses ‘mehr’ her?

Annette Kehnel: 
Das kommt, glaube ich, aus uns selbst. Wir wissen, dass Eigennutz nicht glücklich macht oder er macht vielleicht nur ganz wenige Menschen glücklich. Ich würde sagen, es gibt Grenzen auch für den Eigennutz. Also ab einem bestimmten Einkommen macht es mich nicht noch glücklicher, wenn ich noch mehr habe. Da gibt es ja auch Studien, die die Glücksgrade messen. Immer mehr haben wollen, macht langfristig nicht glücklich. Die Freiheit des weniger-wollens ist etwas, was wir alle in uns tragen. Es gibt einerseits das Bedürfnis nach immer mehr, aber gleichzeitig das Bedürfnis nach Entlastung. Von dem Vielen, was unsere Keller, unsere Wohnungen, aber auch unsere Seelen und unsere Gedankenwelt im Grunde vermüllt. Ich glaube, einer der Hauptgründe für Schlaflosigkeit bei vielen Menschen ist nicht so sehr, wie über die Runden kommen, sondern, wie alles zusammenhalten, was ich habe. Und ich glaube, da in die Richtung zielt meine Idee – Menschen können mehr als Eigennutz. Ich würde sagen, Menschen wollen auch viel mehr als Eigennutz. Resonanzerfahrung zum Beispiel. Das ist etwas, was ja derzeit auch viel diskutiert wird. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Zugehörigkeit ist viel, viel wichtiger – oder ist genauso wichtig – wie die Lust daran, jetzt wieder Profite aus irgendwas geschlagen zu haben. Es gibt Grenzen und das ist gut so. Meistens kommen wir erst an unsere Grenzen, wenn der Körper nicht mehr mitspielt. Der Körper ist deswegen ein ganz wichtiger Punkt für diese Erfahrung, dass immer mehr haben wollen, ein Problem ist. Also: hören wir auf unseren Körper. Und dann würde ich auch sagen, ich glaube, wir haben alle mittlerweile gemerkt, dass dieses Dogma des entfesselten und unbegrenzten Wachstums, weder für den Menschen noch für unsere Mitwelt, für die Natur – es hat ganz, ganz großen Schaden angerichtet. Ich denke, an diese Erkenntnis kommen wir so langsam ran, wir merken, dass es so nicht weitergehen kann. Und ich vertraue eben auf diese Stimme, die ja überall hörbar und vernehmbar ist und die wir in uns selbst auch vernehmen, dass die jetzt wieder den Freiraum hat, lauter zu werden.

Jonas Dahm: 
Die Grenzen des Wachstums erklären aus der Geschichte. “Die sieben Todsünden. Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise” von Annette Kehnel ist bei Rowohlt erschienen. Vielen, vielen Dank für dieses schöne Gespräch.

Annette Kehnel: 
Ich danke Ihnen, Herr Dahm.

---

Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.