Menschen, die nicht schreiben, denken oft, dass Menschen, die schreiben, ziemlich genau wissen, was sie tun. Dass sie sich vorher überlegen, welchen Inhalt und welche Form der zu schreibende Text haben wird – und dass das Schreiben dann so ist, wie das Abarbeiten eines Plans. Wie bei einer Reise, bei der man schon vorher die Routen und Unterkünfte festgelegt hat. Und natürlich gibt es Bücher, die so entstehen – aber sehr oft ist es anders und ein Text gleicht eher einer Reise, bei der man zunächst nur weiß, in welche Richtung man aufbrechen will.
Ich wusste, als ich vor sieben Jahren einen autobiografischen Text zu schreiben begann, kaum mehr, als dass es für mich an der Zeit war, das unübersichtliche Gelände der Sprachlosigkeit zu erforschen, in dem ich mich so lange schon aufhielt – und dass diese Expedition mit mir, mit meinen Erfahrungen beginnen müsse. MIT MIR? Kaum hatte ich den Entschluss gefasst, zuckte ich zurück: War ich nun auch eine dieser Autor:innen geworden, die sich selbst zu wichtig nahm, die um ihr kleines, gewöhnliches Elend kreiste? Trotz des Hypes um Memoirs und autobiographische Texte aller Art begegnete ich dieser Vorstellung regelmäßig und ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte …
Ich mag das Bild vom Schreiben als einer Reise, weil es verständlich macht, auf wie unterschiedliche Weisen Texte entstehen und dass jederzeit etwas Unerwartetes passieren kann, selbst wenn man sich gut vorbereitet hat. Ich mag es auch, weil ich in den langen Jahren, in denen ich an meinem Text schrieb, zunehmend das Gefühl hatte, Teil einer imaginären Reisegesellschaft zu werden. Einer Gesellschaft von Autor:innen, die von einer Erfahrung, einer Frage, einer Verstörung nicht losgelassen werden und sich nun auf die Suche machen – nach einer Erklärung. Joan Didion hätte Das Jahr magischen Denkens (2006) nicht geschrieben, wenn sie bereits vor dem Tod ihres Mannes gewusst hätte, dass man über den Verlust eines geliebten Menschen verrückt werden kann – und Daniel Schreiber hätte vermutlich Nüchtern (2014) nicht geschrieben, wenn seine Erfahrungen mit Alkohol und Sucht nicht eine rätselhafte Seite aufgewiesen hätten: Wie war es möglich, dass sich sein Leben viele Jahre nahezu vollständig um das Trinken drehte – und er dennoch zugleich absolut überzeugt war, kein „Alkoholproblem“ zu haben. Wie war es möglich, dass auch die Menschen in seiner Umgebung, einschließlich des Hausarztes, seine Suchterkrankung bagatellisierten? Nur dadurch, dass Daniel Schreiber seinen Blick weitet und sich neben den psychologischen auch für die soziologischen, die kulturellen Aspekte unseres Umgangs mit dem Trinken interessiert, wird nachvollziehbar, was unverständlich bleiben muss, solange wir nur das individuelle Schicksal betrachten.
Und das betrifft (natürlich) nicht nur dieses Thema. Ganz ähnlich verstehen wir eine entscheidende Dimension von Einsamkeit und dem Leiden am Alleinsein erst, wenn wir begreifen, wie sehr die Vorstellungen von romantischer Liebe (Allein 2021) oder von Heimat (Zuhause 2017) uns mit einem kaum erreichbaren Ideal drangsalieren, das gerade heutzutage nur selten zu den Realitäten unseres Lebens passt. Irrtümer. Täuschungen. In seinen Essay-Büchern ist Daniel Schreiber stets kulturell vermittelten falschen Vorstellungen auf der Spur. Vorstellungen, die bereits in unser Erleben einfließen, die unsere Nöte prägen und die uns so „natürlich“, so selbstverständlich vorkommen, dass sie gerade deswegen nur schwer zu erfassen sind.
Falsche Vorstellungen. Auch die Vorstellung, dass Autor:innen autobiografischer Texte automatisch narzisstischer, ich-bezogener wären, ist ein weit verbreiteter Irrtum. Es gibt fiktive Texte, in denen Autor:innen „sich entblößen“ und es gibt autobiografische Texte von einer großen Diskretion. Ob ein Text fiktiv oder autobiografisch ist, sagt nichts über die innere Haltung seiner Autorin, seines Autors aus oder über die Frage, welchem Erzählimpuls er entspringt. „Die Autoren, die mir am meisten bedeutet haben“, schreibt Didier Eribon in Gesellschaft als Urteil (2017), „waren meist auch diejenigen, die mir deshalb etwas geben konnten, weil sich ihr Schreiben auf einer Sorge um andere gründete.“
Ich hatte, als ich meinen Text zu schreiben begann, noch keine Vorstellung davon, wie sehr und auf wie unterschiedliche Weise sich in mein Gefühl, nicht so wie andere Menschen über eine Lebensgeschichte zu verfügen, gesellschaftliche Übereinkünfte und „Narrative“ eingeschrieben hatten – und wie kompliziert und aufwändig es werden würde, all die Fäden, die sich im Zentrum meiner Sprachlosigkeit verknäult hatten, zu entwirren. Wie sollte ich all die Erkenntnisse und Zitate, die ich aus den unterschiedlichsten Büchern gewonnen hatte, mit meinen Fragen, Gedanken und Erfahrungen zu einem schlüssigen, lesbaren Text verbinden? War das nicht vollkommen unmöglich?
Nein. War es nicht, sagte mir der mich von den Pressefotos stets freundlich anschauende Daniel Schreiber, dessen Nüchtern mir eine Freundin empfohlen hatte. Meine Begeisterung und Dankbarkeit für dieses Buch ist bis heute eine doppelte: sie gilt einerseits einem Text, dem ich viele erhellende und hilfreiche Gedanken zum Thema Alkoholsucht entnommen habe, (und das ich in den letzten Jahren so oft verschenkt habe wie kein anderes), aber sie gilt natürlich auch dem geglückten Versuch, das unmittelbar autobiografische Erzählen mit einer analytischen Ebene zu verbinden. Für diese zweite, analytische Ebene steht in den Büchern Daniel Schreibers exemplarisch das Literaturverzeichnis, das ebenfalls Texte aus ganz unterschiedlichen Bereichen und Professionen enthält – was in Büchern, die sich an ein größeres, nicht-akademisches Publikum richten, eher ungewöhnlich ist. Diese Literaturverzeichnisse, in denen ich oft als erstes stöbere, lassen sich als Landkarten lesen, sie geben Auskunft, in welche Regionen die Lesereise führen wird, in welcher Gesellschaft sich der Autor befunden hat – und manchmal funktionieren sie vielleicht auch wie heimliche Codes …
Der Versuch, das eigene autobiografische Material zu verwenden und in einen größeren Zusammenhang zu stellen, ist bis heute auf dem deutschen Buchmarkt eher ungewöhnlich. Daniel Schreiber hat dieses Genre mit seinen Büchern entscheidend geprägt – und manchmal ist er meine „letzte Rettung“: Wenn ich vergeblich versuche, zu erklären, was das für ein Text ist, den ich geschrieben habe, wer sich dafür denn interessieren könnte, dann frage ich meist irgendwann zurück: „Kennen Sie die Bücher von Daniel Schreiber?“ Und weil ziemlich viele Menschen die Bücher von Daniel Schreiber kennen, kann ich dann sagen: So etwas Ähnliches versuche ich auch …
Jutta Reichelt
wurde 1967 geboren und lebt als Schriftstellerin und Geschichtenanstifterin in Bremen. Sie schreibt Romane, Erzählungen, literarische Essays und bloggt Über das Schreiben von Geschichten. Für unterschiedliche Institutionen entwickelt und leitet sie Schreibwerkstätten und -projekte, darunter auch zwei Schulhausromane, die unter ihrer Leitung für das Literaturhaus Bremen entstanden sind. Jutta Reichelt wurde für ihre schriftstellerische Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen für die Fertigstellung ihres aktuellen Schreibprojektes mit dem Arbeitstitel Lebensgeschichtslosikeit – eine autobiografische Annäherung.