Fragen nach der Identität und eine tiefe Skepsis gegenüber Festschreibungen aller Art hat Iris Wolff aus ihrer deutsch-rumänischen Familiengeschichte mitgebracht. Ihre Erfahrungen bilden den Hintergrund für Romane, in denen sie sich als Meisterin des Perspektivwechsels erweist. Iris Wolff weiß, wie viele Zwischentöne das Leben hat und schreibt unermüdlich gegen Vereinfachungen an. Zuletzt hat ihr Roman Lichtungen Publikum und Kritik begeistert. Im Podcast mit Silke Behl erzählt sie davon, warum sie sich jedes Mal aufs Neue in Ungewisse stürzt und was das für den Schreibprozess bedeutet.
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Silke Behl:
Der Podcast mit Silke Behl und mit Iris Wolff. Das ist unsere beste Wahl für unser September-Thema im Literaturmagazin und auch im Podcast. Es geht ja in diesem Monat um Perspektiven. Und ich konnte mir überhaupt niemand Besseres vorstellen als Iris Wolff. Für sie sind Perspektiven und Perspektivwechsel ein Lebensthema. Man könnte auch sagen, Identitäten oder die fremde Sicht auf das Eigene. Oder die eigene Sicht auf das Eigene. Also, das sind alles Themen, die Sie sehr beschäftigen in Ihrer Literatur. Da sind wir auch alle angesprochen. Wie wir andere sehen, wie andere uns sehen. Ist Ihnen das recht, wenn wir so über Literatur reden?
Iris Wolff:
Unbedingt. Das hat ja zwei Aspekte. Das eine ist das Inhaltliche, das andere das Formale. Ich suche für jeden Roman immer eine Perspektive, aus der ich erzählen kann und die der Geschichte dann am besten dient. Oder die Multiperspektive, wie in der Unschärfe der Welt oder in So tun, als ob es regnet. Da werden hundert Jahre anhand von vier Generationen erzählt. Und wenn dann nur 160 Seiten dabei rauskommen, da muss man Sprünge machen, nah ranzoomen und dann wieder Weite dazugeben. Das ist ganz wichtig. Und ich habe auch immer den Eindruck, ich muss ein paar Schritte weiter gehen, um auch mein Leben richtig zu sehen. Und andere Leben irgendwie mit einem respektvollen Abstand hinzukriegen.
Silke Behl:
Das ist ja eigentlich das Wesen von Literatur, würde ich mal sagen. So etwas wie Empathie herzustellen, auch eine Neugierde gegenüber dem Fremden, dem anderen und dem eigenen Ich. Und sie haben das aber geradezu zum Programm gemacht. Das finde ich so interessant.
Iris Wolff:
Es ist vielleicht einfach so passiert. So was nimmt man sich nicht vor. Und ich habe auch ganz klassisch angefangen mit dem Erzählen. Wenn ich an meine ersten beiden Romane denke, da habe ich mich noch nicht viel getraut. Es ist ein ähnlicher Blick, man kann das vielleicht doch irgendwie so sehen, dass alles aufeinander aufbaut. Aber es ist schon immer mehr Mut dazugekommen in den letzten Jahren, auch Dinge auszuprobieren, erzählerisch. Und ich habe das Gefühl, es ist noch so viel zu entdecken.
Silke Behl:
Es ist noch viel zu entdecken. Sie lassen uns auch ganz viel entdecken. Ich entdecke auch jedes Mal was Neues in ihren Büchern, auch über mich. Im Vordergrund stehen Themen wie Zuschreibungen, Identität. Das hat auch was mit Ihrer Herkunft zu tun. Ich glaube, die meisten Leute wissen das. Aber vielleicht nicht alle, die uns jetzt heute hier zuhören. Deswegen müssen wir doch nochmal darauf eingehen, auf Ihre Herkunft. Sie kommen aus Rumänien. Das sagt sich immer so leicht. Es ist etwas sehr viel Komplexeres, als wir uns das in der Regel vorstellen. Sie sind in Hermannstadt geboren, also in Siebenbürgen. Dann im Banat aufgewachsen. Richtig? Da haben Sie schon sehr viele Perspektiven sehr früh mitbekommen. Oder?
Iris Wolff:
Ja, Sie sagen es ganz richtig. Man sagt Rumänien, und dabei ist es so, als würde man ganz viele Länder in einem Land haben. Und erst recht, wenn man die Perspektive der vergangenen Jahrhunderte dazu nimmt. Wo man auch hinreist. In Siebenbürgen findet man verschiedene Sprachen, Religionszugehörigkeiten. Das ist leicht anders als im Banat. Und dann wiederum anders als jetzt im letzten Roman im Norden des Landes. Also man hört immer auch andere Sprachen auf der Straße, und Zuschreibungen sind überhaupt nicht leicht. Sie sind so flüchtig und wechselhaft durch die Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, dann durch die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Die Staatszugehörigkeit, die wechselte und die Nationalität blieb vielleicht gleich.
Silke Behl:
Sie sind dann mit acht Jahren mit ihrer Familie nach Westdeutschland gekommen. Aber ich möchte noch mal einen Moment in Rumänien oder im Banat bleiben, wo sie die meiste Zeit ihrer dortigen Kindheit verbracht haben. Haben Sie das denn mitbekommen? Haben Sie erspürt, dass es sowas gibt wie unterschiedliche Sprachen, Kulturen, Denkweisen. Und wie man damit umgegangen ist. War das eine Selbstverständlichkeit oder auch was Fremdes.
Iris Wolff:
Ich bin ja auf einem Pfarrhof aufgewachsen und Pfarrhöfe im Banat und Siebenbürgen sind offene Orte, also Orte, die jedem offen stehen. Auch Reisenden, ganz besonders Reisenden, weil es eben keine Klöster gab. Es galt das Gastrecht des Reisenden. Die konnten einfach an die Tür klopfen und durften dann nächtigen oder haben im Garten geholfen. Bei uns war immer viel los, und es war so, dass vornehmlich natürlich deutsch gesprochen wurde in der Familie. Aber dann gab es im Banat auch Freunde, die aus anderen Sprachen kamen. Und dann kamen die Reisenden aus der DDR. Es gab immer viele Geschichten und viele Leute. Im Kindergarten hatten wir auch Roma-Kinder. Das war auch ein ganz selbstverständlicher Teil. Dass es anders sein kann, ist mir erst aufgefallen, als wir ausgewandert sind.
Silke Behl:
Das hört sich wirklich nach einem sehr harmonischen Innenleben an, ohne große Friktionen. Ich würde mal vermuten, dass es auch sehr viel mit ihren Eltern zu tun hat, mit ihrer Familie, und nicht unbedingt das wiedergibt, was in Rumänien insgesamt gelebt wurde.
Iris Wolff:
Absolut. Es gab große Spannungen zwischen den verschiedenen Ethnien. Das darf man nicht verklären. Es gab eine Mehrheitsgesellschaft. Es gab Minderheiten, und die Mehrheitsgesellschaft hat die Regeln gemacht. Die hat auch festgelegt, wann welche Sprache benutzt werden darf. Und sowieso war das System des Kommunismus ein unfreies System. Das hat schon für viel Spannung gesorgt. Aber das ist auch wiederum etwas, was ich dann wirklich erst als erwachsener Mensch mitgekriegt und verstanden habe. Als Kind nimmt man vielleicht subtile Irritation wahr. Aber man ist nicht involviert.
Silke Behl:
Ja, aber mit acht, neun oder zehn, wenn man dann plötzlich ganz woanders ist. Dann kriegt man schon eher mit, was es heißt, wenn einem etwas zugeschrieben wird. Wenn einem die eigene Identität von Außen zugeschrieben wird. Können Sie sich daran erinnern, wie das war, als sie das das erste Mal gemerkt haben? Die schauen mich an, meine Mitschüler oder die Nachbarn, und die haben gleich ein Bild von mir.
Iris Wolff:
Ja, das war ganz deutlich nach der Auswanderung, weil ich als Rumänin bezeichnet worden bin. Und dann musste man immer erstmal erklären, dass man das nicht ist, obwohl man in einem bestimmten Land geboren ist. Also da war plötzlich viel Übersetzungsbedarf. Und meinen Eltern hat man es auch angehört. Ich kann mich erinnern, wenn Freundinnen angerufen haben. Ich selbst habe recht schnell meinen Akzent losbekommen, den man naturgemäß hat. Wenn man aus Südosteuropa kommt und Deutsch spricht, klingt das anders. Ist ein anderes Deutsch. Meinen Eltern hört man es an und hat es damals noch mehr angehört. Und wenn jemand anrief oder kam, dann waren da immer diese Fragen: Deine Eltern kommen nicht aus Deutschland? Na also, das war dann merkwürdig. Es ist ja ganz normal als Kind oder Jugendlicher. Man passt sich unglaublich schnell an, wenn man dazugehören will. Man redet auch nicht viel drüber. Man will einfach so sein wie alle anderen. Und bei meinen Eltern ist das aber dann aufgefallen
Silke Behl:
Das ist nicht einfach. Und so was nimmt man ja auch mit? Hat es im Lebensgepäck und bearbeitet das dann wahrscheinlich immer wieder und in unterschiedlichen Situationen. Sie haben eben schon den Roman Die Unschärfe der Welt erwähnt. Da haben Sie das Multiperspektivische geradezu auf die Spitze getrieben. Es geht über mehrere Jahrhunderte. Es wird ein riesiges Panorama aufgezogen. Im Mittelpunkt steht eine Figur, Samuel. Dessen Geschichte. Um es kurz zu machen, und es ist immer ein bisschen gemein, wenn man so kurz einen Roman zusammenfassen muss: Dieser Samuel wird beschrieben aus sieben unterschiedlichen Perspektiven. Und er fällt jedes Mal anders aus. Wie kommen Sie auf solche Ideen?
Iris Wolff:
Ja! Gut, dass man selbst nicht sein Buch zusammenfassen muss in einem Satz, weil das geht ganz, ganz schwer. Und in der Unschärfe der Welt ging es mir tatsächlich um diese Deutungsfreiheit, die mir manchmal zu kurz kommt im Alltag oder in unserer Gesellschaft. Dass man alles so eindeutig festlegen muss. Das Leben hat doch so viele Zwischentöne. Und auch ein Mensch ist so veränderbar. Nichts empfinde ich schlimmer als Festschreibungen. Dass jemand sich ein Bild macht und man dann nur in diesem Bild leben darf und zu Hause ist. Ein Mensch ist sehr viel mehr als das Bild, das wir uns von ihm machen. Und er hat diesem Bild nicht zu entsprechen. Also ist es auch eine Rebellion für die Veränderbarkeit und Wandelbarkeit eines Lebens und die verschiedenen Perspektiven auf dieses Leben. Gleichzeitig zeigt sich aber auch die Verwobenheit eines jeden Lebens in anderen Leben.
Silke Behl:
Ich finde das so spannend, diese sieben Perspektiven wahrzunehmen. Diese sieben Perspektiven sind ja auch immer Möglichkeiten, wie das Leben auch hätte aussehen können. Das sind ja nicht nur Interpretationen von Menschen, die einen bestimmten Blick auf eine Figur und auf deren Geschichte haben. Da öffnen sich ja noch mal ganz andere Welten. Schon 2020, als ich den Roman die Unschärfe der Welt gelesen habe, dachte ich, dass das die Bücher sind, die wir dringend brauchen. Dieses Rumänien mit so unterschiedlichen historischen Linien von Slawen, Ungarn, Deutschen, Rumänen, Roma. Es gibt unglaublich viele Volksgruppen, Religionsgruppen. Rumänien scheint sowas zu sein wie Europa im Kleinen. Da kann man viel lernen. Oder?
Iris Wolff:
Den Eindruck habe ich auch. Ich glaube, sonst würde ich nicht zurückblicken. Also das Zurückblicken, was ich ja auch mache in der Literatur, das soll eben nicht dieser nostalgische Blick sein. Sondern ein Blick zurück, der Relevantes für die Gegenwart zeigt. Die Herausforderungen der Gegenwart. Die sind groß, ja, und man kann so wenig über die Zukunft sagen. Man kann ein bisschen verstehen, wie man es machen kann und wie man es nicht machen kann. Das zeigt ja der Blick zurück ins vergangene Jahrhundert, wie man das auch nicht machen sollte. Und ich empfinde auch Rumänien immer wie ein Europa im Miniaturformat. Wo man bestimmte Dinge durchspielen kann. Wo auch Dinge fehlgelaufen sind. Nein, das ist wirklich keine Idylle. Aber es ist ein Experiment. Ein Experiment, das an gewissen Stellen gescheitert ist, aber auch geglückt ist. Und auch heute noch wird die Lesefibel in Rumänien in 14 Sprachen gedruckt. Das weiß kaum jemand. Und das, was Sie vorher auch gesagt haben, diese Perspektiven aufeinander. Wenn man andere Menschen trifft, dann hat man immer die Möglichkeit, von sich selbst abzusehen und sich durch die Geschichte des anderen zu verändern. Durch den Blick des anderen. Und je unterschiedlicher diese Blicke sind, desto besser ist es auch für das eigene Vorwärtskommen. Nichts ist schlimmer, als wenn man selber denkt, man sei irgendwie fertig.
Silke Behl:
Ja, ich komme noch mal auf die Deutungshoheit zurück. Das ist, glaube ich, so wichtig heute. Wenn man ihre Bücher liest. Ich bin dann immer ganz weg. Ganz woanders, in einem anderen Leben. Und wenn ich die Nachrichten anschalte, so wie heute Morgen zum Beispiel, dann gibt es nur noch dieses Schwarz und Weiß. Es gibt nur noch laut oder leise. Es gibt Leute, die sagen gar nichts mehr. Und wir müssen uns immer sofort entscheiden für das eine oder das andere. Ich glaube, die Literatur liefert eigentlich das einzige Antidot. Sie kann etwas, was keine andere Textsorte, was keine andere Äußerungsform kann. Würden Sie das teilen?
Iris Wolff:
Ich sehe das genauso. Also andere Künstlerinnen und Künstler würden jetzt ihre Kunst hochhalten. Aber für mich ist es die Literatur. Die kann das. Das Probleme mit der heutigen Zeit ist eben auch, wie Sie gesagt haben, dass man sich so schnell entscheiden muss. Im schlimmsten Fall für eine Seite also. Das Leben hat immer mehr als zwei Seiten. Es ist ja auch schon ganz falsch, dass man sich schnell entscheiden muss. Diese Geschwindigkeit ist so enorm geworden. Und Literatur ist etwas, was wir nicht beschleunigen können. Man kann eben einen Satz nur lesen in der Geschwindigkeit, in der man ihn liest. Gerade wenn dann noch Poesie ins Spiel kommt, also wenn es ins Bildliche geht, ins Symbolische. Wenn man mitdenken darf als Leserin, als Leser, weil nicht alles ausformuliert ist. Dann entsteht diese Entschleunigung, dieses Zurückfallen, dieses gründlichere Durchdenken und auch vielleicht heilsame Irritiert-Werden, weil Dinge sich nicht sofort erschließen in einem Buch
Silke Behl:
Ja, das ist ganz wichtig, dass Sie das jetzt ansprechen: Ihre poetische Sprache. Also, es ist ja nicht das Auserzählen von Figuren, von Geschichten. Man entdeckt die Geschichten zwischen den Zeilen. Ich finde es immer ein bisschen schwierig, wenn gesagt wird, Iris Wolff erschafft Welten mit ihrer Sprache. Das ist ungenau und vage. Aber sie finden Bilder. Sie finden Bilder für Situationen, manchmal einen halben Satz, und man weiß sofort, worum es geht. Ich sage mal ein Beispiel aus dem neuen Roman. Ein Satz, der mir hängengeblieben ist über eine Figur. Lev heißt diese Figur. Der kommt aus dieser Waldregion im nördlichen Rumänien. Irgendwann, lange nachdem der Eiserne Vorhang gefallen ist, kommt er dann nach Zürich und in eine Pension. Dass in der Schweiz alles anders ist, das merkt man an einem Halbsatz. Er checkt ein, und die Frau am Empfang drückt ganz nebenbei mit der Hand ein Falter auf dem Tresen tot. Lev registriert das genau. Und man weiß, dass da ein Mensch steht, der ganz eng mit der Natur verbunden ist. Der ganz viel mit Natur anfangen kann und plötzlich in einer für ihn komplett irren Welt ist, wo all das nicht mehr zählt. Wo nur andere Dinge zählen. Schöner Schein, Geld und so was.
Iris Wolff:
Ach, ich bin ganz berührt. Noch niemand hat diesen Falter angesprochen. Das ist wirklich so. Lev steht an diesem Tresen und man merkt, er ist ein Holzmann. Er denkt ‚Ahorn‘, er befühlt die abgerundeten Kanten, die Frau spricht mit ihm. Und während sie spricht, zerdrückt sie diesen Falter in dieser kleinen Szene. Da ist schon deutlich, dass sie aus sehr unterschiedlichen Welten kommen. Und das reibt sich, Lev ist absolut fremd in Zürich. Er spürt diese Fremdheit ja schon am Ticketautomaten, weil er einfach nicht weiß, wie er den bedienen soll. Also nicht, dass jeder, der aus Rumänien kommt, nicht weiß, wie man einen Ticketautomaten bedient. Aber er kommt einfach aus einer sehr, sehr ländlichen Region. Er ist Waldarbeiter, er weiß nicht, wie eine Stadt funktioniert und muss sich da erstmal sozusagen von Kato, die ihn in Empfang nimmt, ein bisschen an der Hand nehmen lassen.
Silke Behl:
Ich freue mich, dass wir dieses kleine Beispiel jetzt ausführlicher besprechen konnten. Ich glaube, man kann dann ganz gut sehen, wie Sie arbeiten. Und wie tatsächlich etwas entsteht zwischen den Zeilen. Wie wir eine Vorstellung bekommen von den Figuren, von dem, was sie gerade erleben, und von dem, was sie vielleicht vorher erlebt haben. Wenn wir jetzt mal einen Sprung machen. Vier Jahre liegen zwischen der Unschärfe der Welt und dem neuen Roman Lichtungen. Sie haben sich zunächst mit Zuschreibungen, Identitäten und mit dem Wehren gegen Deutungshoheiten befasst. Im neuen Roman konzentrieren Sie sich mehr auf die Perspektive des Individuums und untersuchen eher, welche Möglichkeiten von Freiheit der einzelne Mensch überhaupt hat. Und da sind Kato und Lev total unterschiedlich. Lev zieht sich erstmal in die Wälder zurück. 1990, als es dann möglich ist, schmeißt sich seine Kindheitsfreundin Kato auf einem Fahrrad und haut sofort ab. Die nimmt die erste Gelegenheit sofort wahr. Lev bleibt aber zunächst zu Hause, und das sind eigentlich auch gar keine Wertungen. Sie gehen den Figuren nach und gucken. Warum handeln die so? Was für innere Freiräume haben die überhaupt? Interessiert Sie das jetzt mehr?
Iris Wolff:
Ja, diese Geschichte war für mich wie ein Hinabsinken ins Innere der Hauptfigur Lev. Gerade weil die Geschichte rückwärts erzählt ist. Wir lernen ihn kennen in Zürich als erwachsenen Mann. Er trifft auf Kato, und dann führt der Roman weiter in die Vergangenheit, und es geht wirklich immer weiter zurück. Aber es ist auch ein nach-Innen-Sinken, bis zu diesen ganz, ganz kleinen Scharnieren im Inneren. Die hat ja jeder irgendwie, diese kleinen Türen und Verknotungen. Es geht um das, was man in sich drin trägt, auch an Hemmnissen. Man denkt ja immer, man erlebt die Gegenwart unvoreingenommen, oder man hofft zumindest, dass man das zeitweilig kann. Aber das stimmt nicht. Wir sehen die Gegenwart immer durch diesen Filter der Vergangenheit. Durch das, was wir erfahren haben. Durch das, wo wir herkommen, wen wir getroffen haben, die ganzen Traumata. Ein Stück weit ist Levs Geschichte auch eine Geschichte der Befreiung für mich geworden. Also wie befreit man sich von der eigenen Vergangenheit?
Silke Behl:
Ja, wie befreit man sich? Vielleicht bleiben wir doch noch einen Moment bei dem Punkt, wo Sie die Vergangenheit, die Erinnerungen und die Erfahrungen ansprechen, die uns prägen. Das ist ja auch nichts Lineares, was sich bruchlos aneinanderreiht. Das sind eigentlich Erinnerungsinseln. Man kann sich so oder so erinnern, und ich glaube, das wissen wir alle. Wenn Geschwister zum Beispiel aus einer Familie kommen. Jeder wird sich anders erinnern an bestimmte Erlebnisse. Jeder wird das anders erzählen. Jeder macht etwas anderes aus Traumata, aus bestimmten Situationen.
Iris Wolff:
Absolut. Der Erinnerung darf man nicht trauen. Erinnerung ist widersprüchlich, sie liegt tief und veränderlich. Erinnerung ist ja auch Identität, also die Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen. Na, die fällt meistens zu den eigenen Gunsten aus. Der ist nicht zu trauen. So funktioniert das Gehirn. Wir erinnern ja nicht als Kontinuum. Wir würden verrückt werden, wenn wir nicht vergessen würden. Das Vergessen ist auch wichtig. Und da ist Imre, eine der Figuren im Wald. Als Lev ihn fragt, was machst du eigentlich hier, da sagt er, er suche den unterirdischen Fluss. Und das ist Lethe.
Silke Behl:
Der Fluss des Vergessens.
Iris Wolff:
Nur weil es manche Dinge gibt, die so schwer auf einem lasten, dass man schier nicht weiterleben kann. Ich wusste, Levs Erinnerungen oder diese Stationen seines Lebens, die hätten vielleicht doch anders ausfallen können. Warum jetzt dieses Ranzoomen, diese Tage? Es wäre auch anders, aber da muss er sich ein Stück weit mir überantworten.
Silke Behl:
Dann wissen Sie immer, was sie tun? Also ich hatte den Eindruck: Nein
Iris Wolff:
Überhaupt nicht. Nein, ich werde manchmal eingeladen, Schreibseminare zu geben. Und ich frage mich auch, ob das eine gute Idee ist. Es gibt ja nicht so ein Rezept oder so einen Koffer. Und bei mir ist das Schreiben wirklich sehr auch vom Zufall bestimmt. Im positivsten Sinne. Was einem eben zu-fällt. Das nehme ich während dieser Zeit von zwei, drei Jahren, in der ich an einem Buch arbeite. Da kommen Dinge auch einfach. Man liest, was in der Zeitung steht. Man führt Gespräche. Man beobachtet was. Das alles kann Spuren hinterlassen in der Geschichte. Das war bei der Unschärfe genauso wie bei den Lichtungen. Ich sehe einfach nur die Figur in einer Situation und folge ihr. Dann kommen andere, als würde man auf ein Bild gucken. Dann wird oben rechts was deutlich und dann unten links. Dann kommt eine Farbe hinzu. Man weiß aber noch nicht, wie die Sachen verbunden sind. Man weiß noch nicht, wie das alles zusammenkommt. Wie das nachher irgendwie ein Ganzes werden soll. Es ist auch schrecklich. Ich habe jetzt wieder angefangen, ein neues Buch zu schreiben. Dieses Gefühl des Nichtwissens, das so wichtig für mein Schreiben ist. Das auch auszuhalten, ist nicht leicht.
Silke Behl:
Ich stelle mir das aber aufregend vor. Wenn man so eine Figur erst im Laufe des Schreibens kennen lernt.
Iris Wolff:
Ja, und das ist doch gut, dass man sie kennenlernen kann und nicht schon vorher ein Bild hat oder schon geplottet hat und schon weiß, was wann passiert oder welche Entwicklung die Figur machen soll. Es käme mir überhaupt nicht in den Sinn, so zu schreiben. Auch wenn ich weiß, dass es natürlich so geht. Also, dass man auch so schreiben kann. Aber ich möchte erstmal Zeit haben, die Figur kennenzulernen. Ich möchte ihr auch nicht Dinge aufzwingen. Manchmal schreibe ich auch in eine Richtung. Man läuft und man merkt, man muss umkehren. Das passt nicht zu der Figur. Und vielleicht kennen Sie das auch als Leserin. Manchmal hat man den Eindruck, wenn man ein Buch liest: Ah, das ist falsch. Das passt nicht zur Figur. Der Autor oder die Autorin will auf irgendeine Sache hinaus, und das muss sich irgendwie jetzt fügen.
Silke Behl:
Das ist aber ärgerlich. Kein schönes Erlebnis beim Lesen.
Iris Wolff:
Es kann auch trügen. Also wir können uns auch irren in unserem Bild der Figur. Und manchmal hat man ja auch als Leserin nicht recht.
Silke Behl:
Als Autorin, als Autor geht das aber nicht. Dazu gehört ja eine Wahrhaftigkeit. Ich glaube, das merkt man sonst sofort.
Iris Wolff:
Wahrhaftigkeit ist ein gutes Stichwort. Eine Figur und eine Geschichte haben eine Wahrhaftigkeit. Auch eine innere Logik, die sich erst entwickeln muss. Wenn man nicht selber kommt und sagt, ich will jetzt, dass die Sache hier so und so läuft. Oder ich will jetzt auf das und das hinaus. Aus der heutigen Perspektive fallen mir so viele gute Gründe ein, warum ich die Lichtungen rückwärts erzählt habe. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, als ich angefangen habe, war das nicht mehr als eine Idee oder eine Intuition oder ein Gefühl. Dass es jetzt richtig ist, das so herum zu machen. Es war nicht mit dem Verstand. Oder mit der Logik, jetzt gleich die prima Erklärungen zu liefern, warum das nötig und notwendig ist. Das kann ich jetzt erst machen,
Silke Behl:
Wollt ich gerade sagen. Das macht man dann hinterher bei den großen, umfänglichen Lesereisen. Und ich finde, es ist einfach genial. Es würde Ihnen auch jeder abkaufen, wenn Sie sagen, ich habe mir das genauso überlegt, weil ich einfach bestimmte Dinge rausfinden wollte über meine Figuren, und ich wollte mich selber so ein bisschen ins Ungewisse stürzen.
Iris Wolff:
Ja, ins Ungewisse stürze ich mich tatsächlich jedes Mal willentlich. Weil das eine Qualität des Schreibens ist. Die Ungewissheit, die brauche ich auf dem Papier. Ich finde, das ist wie eine eigene Kraft, die mich dann auch zu bestimmten Punkten hinführt. Aber es hört sich jetzt sehr intuitiv an. Es gibt natürlich im Schreibprozess immer auch ganz wichtige Phasen, wo man ein Stück heraustritt und von außen draufguckt, wo man es vielleicht mit jemandem bespricht, wenn es ein bestimmtes Stadium hat. Aber man darf nicht zu früh anfangen, von außen rum zu philosophieren: Was man jetzt da genau will oder macht. Das sind jetzt alles man-Sätze, man sollte eigentlich ich sagen. Es gilt nur für mich, für mein Schreiben.
Silke Behl:
Haben Sie über sich noch was gelernt? Oder lernt man jedes Mal was über sich selbst, wenn man einen Roman schreibt?
Iris Wolff:
Naja, man wird auch an die eigenen Grenzen geführt. Schreiben bedeutet eben schon, dass man immer wieder auch an Grenzen kommt. Dessen, was man sagen kann, wie man es sagen kann. Man rutscht manchmal in Bilder, die nicht gut sind oder die man vielleicht schon oft gelesen hat. Also, ich will mir auch Zeit lassen beim Schreiben, um wirklich diese Wahrhaftigkeit herzustellen und diese zwingende Notwendigkeit, dass es so sein muss. Und auch diese Nähe. Ich will den Figuren nahe sein, und ich will, dass die Leserinnen und Leser die Möglichkeit haben, ihnen auch nahe zu sein, sich in dieser Welt für ein Stück zu beheimaten und zuhause zu sein. Dass sie auch in diese 360-Grad-Ansicht wechseln. Ja, dass dieser Sog entsteht und man irgendwie in dieser Geschichte lebt unter diesen Leuten. Was ich nicht gelernt habe bis heute ist, mehr Vertrauen zu haben. Also, ich leide wirklich immer mit meinen Büchern: Ob ich das schaffe, dieser ersten Idee gerecht zu werden. Ob sich das rundet, ob es danach auch für andere so logisch ist wie für einen selbst. Das ist ja jedes Mal ein Wagnis. Gottseidank. Also, wenn man da jetzt irgendwie ein Rezept hätte und wüsste, wie es geht, wäre es auch langweilig. Dann könnte man es auch lassen. Die Ungewissheit ist Teil des Spiels, aber sie bringt einen auch an Grenzen und auch an Ängste des Nicht-Könnens.
Silke Behl:
Als Leserin kann ich nur sagen ich bin sehr gerne mit ihren Figuren unterwegs und liebe auch ihre Einfälle. Zum Beispiel, dass sie beide auf ein Fahrrad setzen. Kato, als sie abzischt in Richtung Westen, steigt nicht in ein Flugzeug, sie steigt aufs Fahrrad. Und Lev, der auch unterwegs sein will, aber erstmal sozusagen in seinem alten Kosmos im Osten, der steigt auch auf ein Fahrrad. Das wird ihm dann auch gleich noch am Anfang geklaut. Wie kommen Sie auf solche Bilder? Das Fahrrad hat mich auch fasziniert.
Iris Wolff:
Hinten gibt es eine lange Danksagung, und da danke ich auch einem Freiburger Förster und einer Freiburger Försterin. Jemand hat mich mal gefragt, wieviel Freiburg steckt eigentlich in ihrer Maramuresch, also in dem Wald? Ich lebe ja in Freiburg, und Freiburg ist eine Radstadt. Man erfindet natürlich eine Geschichte in einem Roman, aber aus eigener Erfahrung heraus. Ja, jede Schreibende, jeder Schreibende nimmt immer auch die eigene Erfahrung mit. Und Freiburg ist also ein Radstadt. Und das Radfahren ist für mich das adäquateste Fortbewegungsmittel. Ich kann leider meine Lesereisen nicht per Rad machen. Ich muss mich auf die Deutsche Bahn verlassen. Das Radfahren ist eine Art der Fortbewegung, die einem erlaubt, unglaublich viel wahrzunehmen. Die Beschaffenheit der Erde. Wie riecht es? Wie sieht die Perspektive eines Tals aus, wenn ich reinfahre und dann, wenn ich mittendrin bin und rausfahre. Diese Geschwindigkeit des Blicks ist, glaube ich, angemessen beim Radfahren. Es kommen natürlich eigene Vorlieben und Wahrnehmungen dazu. Bei Kato wusste ich, sie braucht einen Auslöser, damit sie endlich da fortkommt. Also sie schließt sich ja einem Hamburger Radfahrer an, der durch das neue große Europa reist. Und Lev ist dann vor Kummer gelähmt und kann zwei Wochen nicht aus dem Bett steigen. Er sagt dann, er fährt ihr nicht hinterher. Er fährt in die andere Richtung.
Silke Behl:
Auch so ein tolles Bild. Wieder ein toller Einfall. Iris Wolff, wir danken ganz herzlich für das Gespräch! Übrigens, Bremen ist auch eine Fahrradstadt und jetzt City of Literature. Wir hoffen, wir sehen Sie bald hier!l
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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.